Während der Westen im vierten Kriegsjahr über neue Sanktionen gegen den Kreml diskutiert, feiert Wladimir Putin neue Rüstungs- und Abschussrekorde. Mit 728 Langstreckendrohnen – so viele wie in keiner Nacht zuvor – griff die russische Armee am vergangenen Mittwoch Städte in der gesamten Ukraine an. 597 Angriffsdrohnen waren es in der Nacht auf Samstag.
Das Surren der drei Meter großen Todesflieger ist so eindringlich, dass sie in der Ukraine „Mopeds“ genannt werden. Dabei handelt es sich um Kamikazedrohnen vom Typ Shahed (Geran-2), beladen mit bis zu 90 Kilogramm Sprengstoff, die sich in Wohnhäuser und Fabrikanlagen stürzen. Von Kiew über Odessa bis in die Westukraine – bei Reichweiten von mehr als 1500 Kilometern ist kein Ort mehr sicher.
Aus den relativ günstigen Kamikazedrohnen sind für Russland strategische Angriffswaffen geworden – ein Instrument der Luftüberlegenheit durch Masse statt Hochtechnologie. Denn neu ist nicht ihr Einsatz an sich, sondern Umfang und Ablauf der Attacken. Russland überwältigt die ukrainische Flugabwehr seit Wochen mit Schwärmen von Angriffs- und Tarndrohnen – in Kombination mit dem Einsatz von weitaus zerstörerischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern.
„Energieversorgung, Rüstungsindustrie und die Moral der Bevölkerung sollen – so das russische Kalkül – zum Kippen gebracht werden“, sagt Oberst Markus Reisner, Leiter des Instituts für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.
In ihrer derzeitigen Notlage braucht die Ukraine beides: Neue Abwehrwaffen gegen die kombinierten Drohnenangriffe und weitreichende Offensivwaffen mit großer Sprengladung für Angriffe tief in Russland.
Akuter Bedarf an Flugabwehrsystemen
Wer in den vergangenen Tagen die apokalyptischen Bilder brennender Industrieanlagen und Wohnhäuser in Kiew gesehen hat, kann erahnen, welchen Schaden die russischen Angriffswellen anrichten. In Gesprächen mit Vertretern der Bundesregierung haben ukrainische Offizielle zuletzt eindringlich geschildert, wie akut der Bedarf an neuen Flugabwehrsystemen und ihrer Munition ist.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat am Mittwoch erklärt, dass Deutschland für die Ukraine zusätzliche Einheiten des amerikanischen Flugabwehrsystems Patriot aus den USA kaufen wolle. Dazu stand er bereits im Austausch mit US-Präsident Donald Trump – eine Bestätigung des Erwerbs steht noch aus. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich am Wochenende optimistisch, dass eine Einigung zustande kommt: „Wir nähern uns einer mehrstufigen Vereinbarung über neue Patriot-(Flugabwehr-)Systeme und den dazugehörigen Raketen“, sagte Selenskyj in seiner Videobotschaft am Samstag. Einzig mit den jeweils Millionen Euro teuren Patriot-Raketen können die schnellsten und tödlichsten russischen Raketen abgewehrt werden.
Derzeit aber schwächen die massiven Einschläge im Hinterland die Produktion und den Aufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie – und damit das Herz des angegriffenen Landes. Gerade weil die westlichen Unterstützer ihre Rüstungskapazitäten in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht umfassend hochgefahren haben, gerade weil Europas Waffen- und Munitionslager relativ blank sind, ist die Ukraine auf die eigene Industrie angewiesen. „Der Beschuss ziviler Infrastruktur ist dramatisch, aber für die Lage der Front sind die Treffer auf die ukrainischen Industrieanlagen entscheidend“, erklärt Militäranalyst Gustav Gressel im Gespräch mit WELT.
Der Österreicher warnt vor verheerenden Konsequenzen, sollte die ukrainische Armee den russischen Massenbeschuss nicht bald stoppen können. Mit Willen allein könnten sich die Ukrainer nicht verteidigen. „Wenn das so weitergeht, dann wird der organisierte militärische Widerstand der Ukraine zusammenbrechen“, sagt Gressel.
Das heißt, es könnte dann an der Front doch noch zu größeren Durchbrüchen am Boden kommen. Bislang rücken die russischen Streitkräfte nur langsam, aber kontinuierlich vor. Im Juni eroberten Putins Truppen rund 550 Quadratkilometer ukrainisches Territorium und erreichten damit den höchsten Monatswert seit Anfang dieses Jahres. Das geht aus einer Analyse der Open-Source-Plattform „Deep State“ hervor. Zur Einordnung: München ist etwa 300 Quadratkilometer groß.
Was die neuen Massenattacken gegen die Ukraine auch zeigen, ist, wie stark Russland die Produktion von weitreichenden Waffen ausgeweitet hat. Schätzungen gehen auseinander, aber rund 2500 Langstrecken-Kamikazedrohnen sollen mittlerweile pro Monat vor Ort mindestens entstehen. Eine Drohne vom Typ Geran-2 soll zwischen 30.000 Euro bis 60.000 Euro pro Stück kosten. Das Modell Geran-3, das noch schneller und weiter fliegen soll, befindet sich bereits in der Produktion.
Der Erfolg der russischen Rüstungsindustrie macht zudem deutlich, von welch großem Vorteil die Unterstützung Putins durch seine Partnerländer ist. Die Geran-Angriffsdrohnen sind Weiterentwicklungen des iranischen Typs Shahed. Die meisten Bauteile für Putins Fluggeräte kommen aus China. Nordkorea soll neben Soldaten mittlerweile auch Tausende Arbeiter nach Russland schicken, um dem großen Patron zu helfen. Machthaber Kim Jong-un bekräftigte zuletzt bei einem Treffen mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow am Samstag, Russland bedingungslos im Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Der ukrainische Geheimdienst schätzt Medienberichten zufolge, dass Nordkorea demnächst bis zu 30.000 weitere Soldaten nach Russland entsenden könnte.
Veränderte russische Taktik
Es ist eine Gemengelage, die für die Ukraine zunehmend zum Problem wird. Schon im Mai hieß es aus deutschen Sicherheitskreisen, dass die „mittlere Flugabwehr“ in diesem Sommer ein großes Problem der Ukraine werden könnte. Damit ist vor allem das Vorgehen gegen die Langstreckendrohnen gemeint. Gressel erklärt, dass selbst Europa und Deutschland für solche Angriffswellen nicht gewappnet seien. „Wenn die Russen gegen uns Krieg führen, würden sie uns im aktuellen Zustand auseinander bomben.“
Das Kernproblem bleibt, dass die vorhandenen westlichen Waffensysteme und ihre Munition zu teuer und zu rar für einen Krieg der Abnutzung sind, den Russland in der Ukraine führt. Sowohl die Patriot-Abwehrraketen als auch die Munition für das deutsche Iris-T-System eignen sich aus diesem Grund nicht, um Massen an billigen Drohnen zu jagen. Die Iris-T SLM Kurzstreckenrakete kostet mehrere Hunderttausend Euro und kann Ziele in bis zu 40 Kilometern Entfernung bekämpfen. Für beide Systeme wurden jährlich bislang nur einige Hundert Raketen hergestellt.
Erschwerend kommt hinzu, dass Russland seine Drohnen weiterentwickelt und die Taktik bei Angriffen verändert hat. Laut dem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe werden einige russische Drohnen mittlerweile in über 2000 Meter Höhe navigiert. Dies liege außerhalb der Reichweite vieler mobiler Feuereinheiten, auf die das ukrainische Militär seit Langem zum Schutz vor den fliegenden „Mopeds“ setzt. Zudem finden die Schwarm-Angriffe aus verschiedenen Richtungen statt, um die Verteidiger zu umgehen. „Allein der Großraum Kiew ist so groß, dass man nicht jeden Winkel abdecken kann“, sagt Gressel.
Deutsche Waffensysteme wie der Flugabwehrkanonenpanzer Gepard haben seit Kriegsbeginn viele russischen Drohnen kosteneffizient vom Himmel geholt. Sie können das Problem jedoch nicht flächendeckend lösen, da zu wenig Modelle zur Verfügung stehen. Dies gilt auch für das kanonenbasierte Flugabwehrsystem Skynex, das bereits in der Ukraine auf Drohnenjagd ist.
Was sich in den vergangenen Wochen als Abwehrwaffe herauskristallisiert hat, sind Abfangdrohnen. Mitte Juni bestätigte Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits den Einsatz dieser Fluggeräte gegen Kamikazedrohnen vom Typ Shahed. Modelle von ukrainischen Drohnenfirmen wie „Wild Hornets“ zeigen erste Erfolge. Andrij Jermak, der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, postete am Freitag auf „X“ die Zeichnung einer ukrainischen „KI“-Abfangdrohne, die ein russisches Modell jagt.
„Massive Störmaßnahmen (zum Beispiel Spoofing, also gezieltes Täuschen von Navigationssystemen durch gefälschte GPS-Signale, d. Red.) und billige, aber effektive Abfangdrohnen scheinen vielversprechender zu sein als Fliegerabwehrpanzer und teure Abwehrraketen“, sagt Oberst Reisner im Gespräch mit WELT. Analyst Nico Lange schreibt auf „X“, dass auch die westlichen Unterstützer etwas beisteuern können: „Die Ukraine braucht Unterstützung bei Radarsystemen, akustischen und optischen Sensoren. Schneller Ausbau der Fähigkeiten für den Kampf im elektromagnetischen Spektrum hilft bei der Abwehr der Drohnenmassen. Schon jetzt werden 40-50 Prozent der Drohnen elektronisch abgewehrt.“
Neben allen Abwehrmaßnahmen braucht die Ukraine jedoch noch mehr, um ihre Chancen zu erhöhen, als eigenständiger Staat zu überleben. Die Ukraine müsse die Mittel erhalten, um offensiv zuzuschlagen, sagt Reisner: „Die wichtigste Produktion der Geran-2 findet 1000 Kilometer von Moskau in Alabuga statt. Diese Produktion müsste mit weitreichenden Angriffen gestört oder unterbrochen werden.“ Gressel bewertet die Chancen solcher Schläge als gering. Denn Russland habe viele Produktionsstätten außerhalb der Reichweite westlicher Waffensystemen gebracht. „Außer französischen Interkontinentalraketen haben wir in der Reichweiten-Kategorie leider wenig.“
Militäranalyst Fabian Hoffmann fordert aufgrund der ukrainischen Notlage ein grundsätzliches Umdenken in Europa: „Die westliche Raketenabwehr kann mit der russischen Raketenproduktion nicht Schritt halten - und zwar in allen Kategorien“, schreibt er im Fachmagazin „Hartpunkt“. Der Versuch, dieses Rennen zu gewinnen, sei Europas Weg zur Niederlage. Darum müsse die Ukraine in die Lage versetzt werden, mit massiven weitreichenden Waffen tief in Russland zuzuschlagen.
„Das sollte auch Europas Antwort auf Russlands Raketenaufrüstung sein: eine konventionelle ,countervalue‘-Strategie verfolgen und tausende von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen auf jedes hochwertige Ziel westlich von Kasan richten“, sagt Hoffmann.
Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.
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