Mit tödlichem Reizgas zwingen die Russen die Ukrainer aus ihren Stellungen. Oberst Reisner erklärt ntv.de, warum die Lage bei Pokrowsk immer bedrohlicher wird.

ntv.de: Herr Reisner, wir melden heute, die Ukrainer hätten im Dorf Dachne ihre Flagge gehisst, nachdem die russischen Truppen sie vor wenigen Tagen für erobert erklärt hatten. Lässt sich feststellen, wer recht hat?

Markus Reisner: Das ukrainische Video mit der Flagge kenne ich auch. Es ist inzwischen georeferenziert, das hat also tatsächlich dort in Dachne stattgefunden. Beide Seiten versuchen hier, den Ort für sich zu reklamieren. Auch neue Videos zeigen, wie in der Ortschaft und westlich davon entlang des Flusses Wowtscha in Richtung Jalta heftige Kämpfe toben.

Dachne liegt in Dnipropetrowsk - das ist die nächste Oblast nördlich von Saporischschja. Also eine Region, die schon außerhalb der vier Oblaste liegt, in denen die russische Vollinvasion 2022 begonnen hat. Unterstreicht Russlands Präsident Wladimir Putin damit sein Ansinnen, die ganze Ukraine zu besetzen?

Erst kürzlich sagte Putin vor der Presse, dass er das russische und das ukrainische Volk tatsächlich als ein Volk betrachte: "In diesem Sinne gehört die gesamte Ukraine zu uns." Die Eroberung einer Ortschaft in der nächsten Oblast würde dazu passen, zumal der Kreml außerdem mitteilte, es sei erstmals gelungen, eine der vier seit Beginn des großen Krieges umkämpften Oblasten gänzlich in Besitz zu nehmen.

Luhansk?

Genau. Der Oblast Luhansk wurde letzte Woche von den Russen als zur Gänze erobert gemeldet. Das war bereits seit Monaten absehbar und ist auf strategischer Ebene ein Erfolg für die Russen. Die Einnahme von Dachne in der fünften Oblast hat hingegen auf den Kriegsverlauf keinen Einfluss, dazu ist der Ort zu unbedeutend. Der Kreml versucht aber, damit den Informationsraum zu dominieren. An der Grenze von Saporischschja zur Oblast Dnipropetrowsk entlang verläuft der bereits erwähnte Fluss Wowtscha, und an zwei Stellen ist den Russen offenbar gelungen, ihn zu überqueren. Einmal bei Dachne und acht Kilometer westlich davon bei der Ortschaft Jalta.

Beide Orte sind aber noch umkämpft?

Die Bilder im Netz zeigen, dass die Russen Jalta ziemlich sicher erobert haben. Im Fall von Dachne werden erst die kommenden Tage zeigen, wer die Oberhand hat. Es geht vor allem um einen öffentlichkeitswirksam verwertbaren Erfolg im Informationskrieg. Schon im Vorfeld des 9. Mai, als Russland den Sieg über Nazi-Deutschland 1945 feierte, haben die Russen ganz massiv in Richtung der fünften Oblast gedrängt. Da sind Russen mit einem Pickup mitten in ein Stacheldrahthindernis gefahren, nur um die Flagge hissen zu können und zu zeigen: Auch hier haben wir jetzt einen Fuß hineingesetzt. Operativ bedeutsam ist das nicht. Da bereitet mir der Raum weiter nordostwärts von Dachne wesentlich mehr Sorgen.

Was passiert dort?

Auch dort versuchen die russischen Truppen, in einer Art Zangenbewegung großräumig Gebiete in Besitz zu nehmen. Geht man noch weiter Richtung Nordosten, dann sehen wir bei Pokrowsk und bei Konstantinowka eine ähnliche Entwicklung. Beide Städte sind wichtige Logistik-Knotenpunkte, mehrere Straßen und Eisenbahnlinien laufen dort hindurch. Vor einigen Wochen stand Pokrowsk schon sehr im Fokus durch die russischen Vorstöße, doch jetzt ist die Bedrohung fast noch größer. Man sieht richtig, wie die russische Front quasi wie eine sich aufbauende Tsunamiwelle auf die beiden Städte zukommt. Man versucht, die ukrainischen Versorgungslinien hinter den Städten abzuschneiden. Beide Kessel, Pokrowsk und Konstantinowka verändern sich von Tag zu Tag zu Ungunsten der Ukraine.

Würde es Sinn für die Ukrainer ergeben, dort noch einmal mit weiteren Truppen die Verteidigung zu verstärken? Solange man überhaupt noch durchkommt?

Diese Debatte sehen wir in den ukrainischen sozialen Netzwerken. Einige Kommandeure, auch solche der oberen Führungsebene, äußern sich mittlerweile sehr kritisch zur Maxime, diese ukrainischen Städte bis zum letzten Soldaten zu halten. Ist das sinnvoll? Oder wäre es nicht besser, sich in die Tiefe zurückzuziehen, bis zu einer günstigeren Verteidigungslinie - zum Beispiel entlang eines Flusses - und die Russen dort abzufangen?

Sehen Sie dort einen Wandel in der Strategie?

Der ukrainische Generalstabschef Syrskyi reagierte auf den Druck und sagte, in Zukunft versuche die Ukraine eine bewegliche Verteidigung durchzuführen. Das heißt: Dort, wo es notwendig ist, nachzugeben, um dann gezielt durch Gegenangriffe vorstoßende russische Truppen zu vernichten.

Allerdings steht man dann natürlich vor dem Problem, dass es für einen erfolgreichen Vorstoß notwendig ist, dem Gegenüber überlegen zu sein.

Es könnte auch schon günstiger sein, sich in eine günstigere Verteidigungslinie zurückzuziehen, um die Russen dort abzufangen und abzunützen. Denn die Lage der Ukrainer ist weiterhin sehr angespannt, die Gefechtsstreifen sind völlig überdehnt. Das stellen Kommandeure öffentlich dar, das berichtete mir auch vor zwei Wochen ein ukrainischer Kamerad. Sie haben eine Brigade, um einen Gefechtsstreifen von 25 bis 30 Kilometern zu verteidigen. Das ist viel zu viel. Vor allem, da ja die Brigade nicht die eigentlich erforderlichen 5000 Mann hat, sondern nur 2500. Das funktioniert überhaupt nur durch Drohnenüberwachung, mit der man die Lücken aufklären und bei Bedarf mit Angriffsdrohnen schließen kann. Das funktioniert nicht mehr, wenn die Russen massiv angreifen - mit Bomben, Artillerie, chemischen Kampfstoffen. Dann wird es sehr schwierig, den Abschnitt zu halten. Und darum nehmen die Russen jeden Tag im Schnitt 15 bis 20 Quadratkilometer in Besitz. Im Mai und Juni über 1.000 km².

Stichwort chemische Kampfstoffe - die werden derzeit verstärkt eingesetzt, heißt es?

Die russische Armee nutzt zunehmend Reizstoffe, die sie mit Drohnen in den Stellungen abwirft. Ein Gemisch aus Gasen, darunter vor allem Chloracetophenon, das sich dann verteilt. Da die Ukrainer kaum Schutzmasken haben, zwingt das austretende Reizgas sie, ihren Bunker oder ihre Stellung zu verlassen. So exponieren sie sich und werden in der Regel Opfer von angreifenden First-Person-View-Drohnen, Scharfschützen oder Maschinengewehrfeuer. So versucht man, die Pattsituation des Stellungskrieges aufzubrechen - ähnlich, wie das im Ersten Weltkrieg gemacht wurde, ebenfalls unter Einsatz verschiedener chemischer Kampfstoffe wie etwa Chlorgas, Phosgen oder Senfgas. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht, das solche Kampfstoffe verbannt hat.

Setzen diese Reizgase die Soldaten "nur" außer Gefecht, oder sind sie lebensbedrohlich?

Wenn sie sich der unmittelbaren Einwirkung dieser Reizstoffe nicht entziehen können, also zum Beispiel in einem Bunker, dann kann das schwerwiegende gesundheitliche Folgen bis zum Tod haben. Stellen Sie sich vor, Sie würden sich in einem engen Raum mit einer gezündeten Tränengas- oder Reizstoffgranate einsperren oder einer Rauch- oder Nebelgranate. Das hat für die Lunge, aber auch für den ganzen Körper schwerwiegende Folgen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke