Der Ort, an dem Willkommenskultur, Überforderung und Angst aufeinanderprallen, hat einen trügerisch leisen Namen: Hasenheide. So heißt eine Straße in Berlin-Kreuzberg, benannt nach dem Park gleich nebenan. Wer sich dort umschaut, findet alles, was er braucht und noch mehr. Dutzende Backshops, Dönerläden, Asia-Imbisse, Beautysalons, Kioske und Barbershops reihen sich aneinander. Nur vor der Hausnummer 23 bis 31 ist es ruhig – noch. In dem leerstehenden Bürokomplex planen die zuständigen Behörden eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge.
760 Menschen sollen dort einziehen, vor allem Familien aus der Ukraine, der Türkei, Syrien und Afghanistan. Außerdem ist eine Aufnahmestelle für 160 unbegleitete Minderjährige geplant. Der Umbau zu Wohneinheiten startet im Sommer, eingezogen werden soll spätestens Anfang 2027. Der Träger muss europaweit ausgeschrieben werden. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) zahlt monatlich 1,2 Millionen Euro Miete an den Eigentümer. Geplant ist der Betrieb für zehn Jahre.
Kreuzberg ist ein multikultureller Stadtteil, regiert von einer grünen Bezirksbürgermeisterin. Was passiert, wenn dort eine Flüchtlingsunterkunft entsteht? Werden die Debatten anders geführt als im Rest des Landes, wo sich der Ton zuletzt verschärft hat und die Begrenzung der Migration mehr und mehr zum politischen Konsens wird?
Wie kompliziert diese Frage ist, lässt sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in der Nähe der geplanten Unterkunft beobachten. An einem Montagabend füllt sich die Aula der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule mit Anwohnern. Auf der Bühne sitzen zwei Politiker, die Rede und Antwort stehen sollen. Aziz Bozkurt, der Berliner Staatssekretär für Soziales, ein Mann der Sozialdemokraten. Und Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann, eine Frau der Grünen.
Herrmann trägt lange blonde Haare und ein Piercing an der linken Augenbraue. Sie spricht energetisch, aber nicht aufgedreht. Während ihrer Amtszeit hat die 40-Jährige immer wieder deutlich gemacht, dass Migration für ihren Bezirk eine Bereicherung ist. Bozkurt spricht nicht so flüssig wie Herrmann, ist aber genauso freundlich. Der 43-Jährige trägt seine schwarzen, an den Schläfen leicht ergrauten Haare, in einem akkuraten Seitenscheitel.
Um 18.10 Uhr geht es los, „hier ist ja eine Schule, deswegen ist es sehr verwinkelt“, sagt der Moderator und erklärt, wo die Toiletten sind. In der Frauentoilette sind nur zwei von vier Kabinen zumutbar. Einer fehlt eine Tür, die andere ist verstopft. Eine junge Frau mit Ponyfrisur erklärt auf der Bühne den Gesprächsrahmen: „Wir sind eine geschlossene Veranstaltung mit Anmeldung, um einen vertrauensvollen Raum zu schaffen.“ Man solle hart zur Sache, aber weich zu den Menschen sein. Das Mikrofon rauscht.
Dann spricht Staatssekretär Bozkurt. Er lädt dazu ein, kritisch zu sein. „Wir sind Ihnen Antworten schuldig“, sagt er. „Wir würden hier nicht sitzen, wenn wir genug Wohnraum hätten.“ Es gehe nicht um Geflüchtete, es gehe um fehlende Schulplätze, Facharzttermine und Wohnungen. „Das Problem“, sagt Bozkurt, „sind nicht die Geflüchteten.“ Es wird geklatscht. „Bitte sagen Sie nicht: ‚Der Bund muss Mauern aufziehen‘ oder ‚Die Geflüchteten sollen bleiben, wo sie sind‘. Dann machen Sie es mir leicht, dagegenzuhalten.“ Eine blonde Frau im Publikum nickt energisch.
In der Aula wirkt es an diesem Abend, als habe es die Debatten über kriminelle Zuwanderer, überforderte Kommunen und Zurückweisungen an den Grenzen nie gegeben. Die Kreuzberger zeigen sich aufgeschlossen, viele scheinen sich auf die Unterkunft zu freuen. 35 Anwohner haben sich zum „Willkommensbündnis Hasenheide“ zusammengeschlossen, über 270 Menschen folgen dem Bündnis bei Instagram. „Wir sind ein Willkommensbezirk“, betont auch Herrmann und fügt hinzu: „Niemand flüchtet aus irrsinnigen Gründen. Wir sind in der Verantwortung.“
„Es ist schon brenzlig genug hier“
Gabriele Hausmann sieht das anders. Die 68-Jährige hat Bauchschmerzen, wenn sie an die knapp 1000 Menschen denkt, die bald ihre Nachbarn sein werden. Es ist Dienstag, der Tag nach der Informationsveranstaltung in der Schule. Hausmann sitzt auf einer Bank im Innenhof ihres Wohnhauses. Das noch leerstehende Bürogebäude steht direkt daneben. Hausmann, eine Frau mit freundlichem, müdem Gesicht, hat Sorge, dass sich die Menschen in der Flüchtlingsunterkunft untereinander nicht verstehen und es zu Auseinandersetzungen kommen könnte.
„Es ist schon brenzlig genug hier.“ Die Jugendlichen im Bezirk seien „nicht ohne“. Kreuzberg habe außerdem eine Müll- und Lärmproblematik, bis morgens um zwei Uhr seien die Menschen draußen und würden Lärm machen, sagt Hausmann, die als Reinigungskraft arbeitet und früh aufsteht. Sie sei nicht rassistisch, sagt sie. „Sonst würde ich nicht seit 41 Jahren in diesem Kiez leben.“ Sie ruft nach ihrer Enkeltochter, um gemeinsam der Hitze zu entfliehen. „Eis hatten wir schon“, sagt sie und lächelt das Mädchen mit dem schokoverschmierten Gesicht an.
Ein paar Meter weiter zieht eine Frau einen Einkaufstrolley durch die Eingangstür eines Plattenbaus. Der Hausflur ist kühl. Ihre Haare sind blond und gekreppt. Seit 18 Jahren lebt sie in diesem Haus, mehr möchte sie nicht über sich preisgeben. „Bitte nicht“, antwortet sie auf die Frage, was sie von der geplanten Unterkunft hält. „Alle hier finden das nicht gut. Es sieht doch jetzt schon aus wie im Schweinestall, das wird dann noch schlimmer.“
Der Berliner Polizei zufolge zählt der Standort der zukünftigen Erstaufnahme zu den „kriminalitätsbelasteten Orten“ – unter anderem wegen Clan‑Kriminalität, Drogenhandel und Gewalt. 48,6 Prozent der Einwohner in Kreuzberg-Friedrichshain hatten 2023 laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg einen Migrationshintergrund.
Silvester gebe schon einen guten Vorgeschmack, sagt die Frau mit dem Trolley: „Die rufen dann ‚Krieg wie zu Hause‘“. Viele Ukrainer würden mit teuren Autos rumfahren und keinen Hehl daraus machen, alles bezahlt zu bekommen. „Ich habe gerade 51 Euro im Supermarkt gelassen und kaum etwas dafür bekommen, weil alles so teuer ist.“
Eine junge Frau mit Hijab betritt den Hausflur und grüßt freundlich. „Was sagst du zum Flüchtlingsheim?“, fragt die Frau mit dem gekreppten Haar. „Richtig scheiße“, antwortet die Nachbarin. Man könne die Kinder dann nicht mehr allein rauslassen oder als Frau abends dort entlanggehen. „Ich bin selbst Türkin, aber ich habe Angst vor den Flüchtlingen, vor allem vor den arabischen Männern. Die sind nicht zu stoppen, sind mehr für Streit, Kampf und Krieg. Jeder kleine Streit eskaliert.“ Sie möchte über sich nur verraten, dass sie Mutter ist und in einer Apotheke arbeitet.
Auf die Frage, wie Integration gelingen könnte, lacht die junge Frau im Hijab. „Integration klappt nicht, weil die eh nicht hören, wenn sie Geld in der Tasche haben“, sagt sie. „Hier sind viele Büsche und Hecken, das ist sehr gefährlich für Mädchen und Frauen. Du weißt, was ich meine“, sagt sie und verabschiedet sich.
In der Aula der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule beginnt die Fragerunde. Viele Hände strecken sich eifrig in die Luft. Starten darf eine Frau, die sich als Maja vorstellt. Anstatt eine Frage zu stellen, erzählt sie, dass sie vom Willkommensbündnis sei und das Vorhaben begrüße. Allerdings sei der Wohnraum zu knapp. „Ey“, rufen einige im Publikum, „Frage stellen!“ Maja fährt unbeirrt fort. Ihr sei es wichtig, das zu sagen. Sie kritisiert noch, dass die Kinder in der Unterkunft unterrichtet werden sollen statt in einer Schule. Dann fragt sie die Bürgermeisterin auf der Bühne: „Stimmen Sie mir zu, dass das Gebäude nur als absolute Notlösung gesehen werden sollte? Wurde schon in Betracht gezogen, eine andere Lösung zu finden?“ Applaus im Publikum.
Eine andere Frau meldet sich und fragt: „Wird es Räumlichkeiten geben für die Religionsausübung – geschlechtergetrennt? Haben Sie an einen Religionsbeauftragten gedacht?“ Eine dritte stellt sich als Therapeutin vor und fragt: „Wie stellen wir sicher, dass traumatisierte Kinder erfasst werden?“
Herrmann antwortet, dass sie sich über den Rückenwind freue, jedoch noch keinen Goldesel im Rathaus gefunden habe. Der Bezirk brauche eigentlich zwei Millionen Euro pro Jahr, um die Flüchtlinge zu versorgen und zumindest den Auftakt einer Integration zu gewährleisten. Sie sei „offen und ehrlich“, dass dieses Geld aktuell nicht da sei. „Ich bin dankbar über die Diskussion, die wir heute hier führen. Diesen Rückenwind wünsche ich mir auch politisch, weil wir immer stärker rassistische Töne haben in der Politik.“ Bozkurt nickt, das Publikum nickt.
Bozkurt: „So rassistisch, wie es in diesem Land auch zugehen mag“
Das Problem der traumatisierten Kinder werde man jedoch nicht klären können, sagt Bozkurt. „Wir machen da eine Aufnahmeeinrichtung, Menschen sind in der Regel sechs Monate da.“ Auch die Dame, die sich um die Religionsausübung sorgt, erhält eine Antwort: „Konflikte gibt es überall, es wird nicht möglich sein, für jede Religion einen Raum zur Verfügung zu stellen“, sagt Bozkurt. „So rassistisch, wie es in diesem Land auch zugehen mag – ich glaube, da sind wir uns alle einig –, können wir in Deutschland gut auf unterschiedlichste Weise zusammenleben, auch wenn es altbackene rechte Leute gibt, die die Entwicklung nicht wahrnehmen wollen.“ Es wird geklatscht und gejubelt.
Eine Frau um die 40 kritisiert, dass die Kinder in der Unterkunft unterrichtet werden sollen. Sie möchte wissen, warum eine Grundschule 20 Gehminuten von der Hasenheide 23-31 entfernt gerade verkleinert wird, aber keine Schulplätze für die geflüchteten Kinder zur Verfügung stehen.
Man sei an der Stelle sehr pragmatisch, antwortet Bozkurt. „Bevor wir keinen Schulplatz haben für die Kinder und sie an die weiße Wand schauen, schaffen wir lieber eine Schule in der Unterkunft.“ Dann erklärt der Bezirksstadtrat, was das Problem mit der Grundschule sei: Asbest.
Zurück am Ort, an dem die Flüchtlingsunterkunft entstehen soll. „Mir wäre es lieber, wenn es nur Frauen und Kinder wären“, sagt eine junge Frau mit langen dichten Wimpern. Sie habe viele schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht: „Blicke und Anmachsprüche.“ Sie ist 21 und halb Türkin. Es sei gut, dass das Gebäude bereitstehe für Menschen, die Hilfe brauchen. Aber wegen der Männer habe sie Bedenken, abends allein rauszugehen.
Das kann der Junge verstehen, der wenige Minuten später eins der Wohnhäuser verlässt. Er trägt eine weiße Jogginghose, seine dicken schwarzen Haare sind akribisch frisiert, genau wie seine Augenbrauen. Auch er möchte anonym bleiben. Er ist 17 Jahre alt und in Berlin geboren. „Ich finde es an sich gut, aber den Standort nicht“, sagt er. Die jungen Männer hier seien nur auf Stress aus. „Es geht nur darum, sich zu streiten.“ Worüber? „Über unnötige Sachen. Einer sagt: ‚Du bist ein Schwanz‘ und dann geht es los.“ An Silvester sei es „die Hölle“ hier. Wenn noch mehr junge Männer herkämen, könne es noch brenzliger werden. Er verabschiedet sich.
Farag möchte nur seinen Vornamen verraten. Er ist 66 Jahre alt und vor 27 Jahren von Ägypten nach Deutschland gekommen. Er arbeitet für eine Hausverwaltung. „Ich finde es weder gut noch schlecht, aber okay“, sagt er über die Unterkunft. „Die Menschen brauchen Hilfe und die sollen sie bekommen.“ Wichtig sei, dass sie vom ersten Tag an integriert würden, indem sie arbeiten und Deutsch lernen würden. „Sobald die Kinder etwas Deutsch sprechen, sollen sie in die normalen Schulen gehen. Wenn sie in diesem Komplex eingesperrt sind, werden sie nicht integriert.“
Konflikte werde es geben, solange es Menschen gibt. Dass viele seiner Nachbarn verunsichert sind, hat er mitbekommen. „Wissen Sie, was der Grund dafür ist?“, fragt er und lächelt. „Das Problem ist, dass die schlechten Geschichten erzählt werden und die guten nicht, deswegen haben die Menschen Angst.“
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