Zehntausende Menschen versammelten sich am Samstag auf dem Enghelab-Platz in Teheran. Lautstark skandierten sie „Tod für Amerika! Tod für Israel!“ Der Anlass: die Beerdigung von 60 Führungsoffizieren der Revolutionsgarden sowie mehrerer Wissenschaftler des iranischen Atomprogramms. Israel hatte sie im Laufe des Zwölf-Tage-Kriegs mit dem Iran gezielt ausgeschaltet. Vergleichbare autoritäre Regime würden den Verlust so wichtiger Persönlichkeiten kaum in der Öffentlichkeit feiern, es könnte als Eingeständnis der eigenen Schwäche interpretiert werden.
Aber im Iran ist das anders. Die Menschen, die zu Grabe getragen wurden, gelten als Märtyrer, und das ist eine Ehre, keine Schande. Nicht umsonst wollten Tausende von Teilnehmern die Särge der Verstorbenen berühren. Bereits am Freitag wurde der „Hussein Kindertag“ gefeiert. Dabei hielten Hunderte Mütter ihre Babys mit Stirnbändern in die Luft, um zu demonstrieren, dass sie bereit sind, schon die Kleinsten als Märtyrer zu opfern.
Während man in der iranischen Hauptstadt den Tod zelebrierte, gingen die landesweiten Verfolgungen gegen vermeintliche Oppositionelle und Saboteure unvermindert weiter. Seit Kriegsbeginn am 13. Juni sind die iranischen Behörden auf der Suche nach israelischen Spionen im Land. Und seit Inkrafttreten der Waffenruhe am vergangenen Dienstag greifen die Sicherheitskräfte noch härter durch. In Teheran wurden Checkpoints errichtet, Militärpolizisten patrouillieren auf den Straßen. Es gibt Berichte über die Durchsuchung von Fahrzeugen, Telefonen und Computern.
Das Mullah-Regime ist in Panik, da Israel offensichtlich über ein weitreichendes Spionagenetzwerk in der Islamischen Republik verfügt. Medienberichten zufolge wurden im Iran Drohnen- und Raketenstellungen entdeckt, die israelische Agenten für Angriffe genutzt haben. Außerdem war es in einigen Landesteilen zu Sabotageoperationen gekommen.
Nach Angaben von Amnesty International wurden bereits mehr als tausend Menschen festgenommen, und jeden weiteren Tag sollten Hunderte weitere verhaftet werden. Die Organisation spricht von „überstürzten und offenkundig unfairen Gerichtsverfahren“ für die Inhaftierten und bezeichnete das Verhalten des Regimes als „eine fehlgeleitete Demonstration von Stärke“.
In Irans Gefängnissen sollen mindestens sechs Menschen hingerichtet worden sein, wie Hengaw berichtete, eine Organisation, die insbesondere über Menschenrechtsverletzungen gegen die kurdische Minderheit im Iran informiert. Aller Voraussicht nach ist dies aber erst der Beginn einer neuen Hinrichtungswelle.
Denn der Nationale Sicherheitsrat des Iran hat die Strafen für Handlungen „zugunsten Israels“ drastisch erhöht und sie als „Verderben auf Erden“ und „Feindschaft zu Gott“ eingeordnet. „Der Staat verschärft seine interne Unterdrückung“, sagte Zhila Mostajer, Mitbegründerin von Hengaw. „Der iranische Justizchef selbst kündigte öffentlich an, dass Gefängnis oder Hinrichtung als Strafe für ‚Kollaboration mit Israel‘ vorgesehen sind.“
Dies soll einerseits Angst in der Gesellschaft verbreiten, ist aber auch eine Form der Rache für die Versäumnisse des Militärs und der Geheimdienste. „Auf diese Weise kann die Islamische Republik ‚Insider‘ für den Krieg verantwortlich machen“, sagt Mostajer.
Hengaw macht sich vor allem Sorgen um die im Iran lebenden Kurden, Bahais (religiöse Minderheit, Anm. d. Red.) und afghanischen Flüchtlinge. Denn die Behörden haben diese Gruppen in der Vergangenheit schon mehrfach der Kollaboration mit Israel beschuldigt – oft ohne Beweise – und Mitglieder zu langen Haftstrafen verurteilt oder hingerichtet.
Schon während des Krieges, sagt Mostajer, hatten die Menschen im Iran berichtet, dass sie befürchteten, einen Preis dafür zahlen zu müssen, sollte die Islamische Republik nicht zu Fall kommen. „Und genau das ist nun geschehen.“ Dabei hatten viele die Hoffnung gehabt, es könnte tatsächlich zu einem Regimewechsel kommen. Zumal der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und US-Präsident Donald Trump davon gesprochen hatten.
Wenn es nach Israel gegangen wäre, hätte es die Bombardierungen noch mindestens eine Woche fortgesetzt. Die Luftschläge auf die Nuklearanlagen des Iran waren abgeschlossen, die israelische Luftwaffe hätte sich auf militärische Ziele der iranischen Revolutionsgarden konzentriert. Deren Infrastruktur ist die Machtbasis Teherans.
Junge Menschen im Iran fühlen sich verraten
Allerdings forderte ein aufgebrachter Trump das sofortige Ende aller Kampfhandlungen. „Nun gibt es ein tiefes und wachsendes Gefühl des Verrats in der Bevölkerung“, berichtet Mostajer. „In den sozialen Medien sehe ich, wie Iraner – vor allem junge Menschen – abfällige Meinungen über Trump und Netanjahu äußern.“
Im Laufe des Zwölf-Tage-Kriegs hatte sich Reza Pahlavi, der Sohn des letzten iranischen Schahs, als führende Oppositionsfigur ins Spiel gebracht. In den sozialen Medien und bei TV-Auftritten bezeichnete der 64-Jährige die israelischen Angriffe als Gelegenheit, den obersten Führer des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, zu stürzen und eine „säkulare Demokratie“ einzuführen.
„Dies ist unser Moment der Berliner Mauer“, behauptete der in den USA lebende Pahlavi. Aber auch er konnte das Weiße Hause nicht überzeugen, auf den Sturz der schiitischen Theokratie hinzuarbeiten.
„Pahlavi mag vielleicht in der Diaspora populär sein, aber im Iran ist er das nicht“, sagt Johannes de Jong. Er leitet Sallux, eine Stiftung und Denkfabrik der Europäischen Christlichen Politischen Partei (ECPP). „Die Hälfte der iranischen Bevölkerung besteht aus Minderheiten, und einige davon hat sein Vater, der Schah, brutal verfolgt.“
Zu den Minoritäten, die besonders aktiv gegen das iranische Regime sind, zählen die Kurden. Sie machen 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung aus und sind im Nordwesten des Iran beheimatet. Fünf Oppositionsgruppen mit bewaffneten Milizen, die ideologisch unterschiedlich orientiert sind, kämpfen teils schon seit Jahrzehnten gegen die Islamische Republik.
„Es wird viel über eine kurdische Einheit gesprochen, aber bisher hat sie nicht stattgefunden“, sagt Wladimir van Wilgenburg, Journalist, Buchautor und Kurdenexperte. „Allerdings können sie sich gewiss im Kampf gegen das Regime koordinieren.“ Für neue Proteste in den Kurdengebieten sieht er angesichts der aktuellen Repression der iranischen Sicherheitsdienste indes wenig Aussicht: „Die Hoffnung ist der Angst gewichen.“
Iran geht vor allem gegen Kurden vor
Mindestens drei der sechs Männer, die in der vergangenen Woche exekutiert wurden, sollen Kurden gewesen sein. Bei politischen Hinrichtungen sind Kurden überrepräsentiert. Der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights zufolge war mehr als die Hälfte der Menschen, die das Regime in den vergangenen 15 Jahren wegen ihrer Zugehörigkeit zu verbotenen Oppositionsgruppen hingerichtet hat, kurdischer Abstammung.
Auch Jina Mahsa Amini, die 2022 im Alter von 22 Jahren nach Misshandlungen in Gewahrsam der Sittenpolizei starb, stammte aus der iranischen Provinz Kurdistan. Ihr Tod hatte eine landesweite Protestwelle ausgelöst.
„Die Mullahs sind an der Außenfront besiegt, nun werden sie an der Innenfront brutal vorgehen“, sagt Abdullah Mohtadi, der Vorsitzende der Komala-Partei, einer der kurdischen Oppositionsgruppen. Für ihn ist das iranische Atomprogramm ein Fluch für das Volk. „Aber aus dem Krieg könnten sich Möglichkeiten ergeben, dieses Regime endgültig zu beseitigen“, hofft der Parteipolitiker.
Ganz ähnlich denkt de Jong. „Wenn man wirklich an einer Wende in der Iran-Politik interessiert ist, dann kommt man an einem Machtwechsel nicht vorbei“, sagt er. Denn der Iran werde sich nicht ergeben, wie Trump es gefordert hat. Teheran will die Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) beenden und wird vermutlich militärisch und nach Möglichkeit atomar aufrüsten, um ein zweites Debakel im Krieg mit Israel zu vermeiden.
„In Jerusalem und Washington wird man das bedenken und hoffentlich iranische Partner suchen, die es diesmal nicht gegeben hat“, so der Sallux-Direktor weiter. Seiner Einschätzung nach war die iranische Opposition auf einen Regimewechsel nicht vorbereitet. Zumal es keine Absprachen mit Israel und den USA gegeben hatte. „Niemand riskiert einen Aufstand, der dann zusammengeschossen wird“, erklärt de Jong. „Es bedarf militärischer Unterstützung, Koordination und Vertrauen.“
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.
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