Für den Fall eines eiligen Rückzugs bringen die Ukrainer im Donbass Sprengstoff an Brücken an. Sie sollen gesprengt werden, bevor die Russen nachrücken könnten. Doch feindliche Drohnen attackieren die Brücken schon jetzt, erklärt Oberst Reisner, und sie lassen den Sprengstoff detonieren.

ntv.de: Herr Reisner, kürzlich hat der ukrainische Geheimdienst in der Operation "Spiderweb" heimlich eigene Drohnen in Russland eingeschleust und aus dem Inneren des Landes heraus gegen russische Ziele gerichtet - sehr erfolgreich noch dazu.

Markus Reisner: Der israelische Mossad hat nun Vergleichbares im Iran gemacht. Auch hier wurden über Monate Bauteile von Drohnen in das Land hineingeschmuggelt, zusammengebaut und dann aus dem Territorium des Iran heraus eingesetzt.

Darauf wollte ich hinaus. Die werden sich ja kaum abgesprochen haben. Wie kommt diese Ähnlichkeit bei der Kriegsführung zustande?

Das ist das Ergebnis unmittelbarer Betroffenheit. Beide Staaten befinden sich im Kriegszustand und verfolgen das Ziel, mit allen Möglichkeiten, allen technologisch verfügbaren Systemen das maximale Ergebnis zu erreichen. Die Drohnentechnologie gibt da momentan viel her, darum nützen potente Streitkräfte sie in jeder Art und Weise, die Erfolg verspricht. Und Achtung: Nicht nur in der Ukraine und im Iran sehen wir das, sondern weltweit werden Drohnen und neue technologische Fähigkeiten als Waffensysteme eingesetzt.

Geben Sie uns Beispiele?

Videos zeigen syrische Rebellen, die zu Beginn des Sturzes des Assad-Regimes mirohnen arbeiteten. In Mali kämpfen die Tuareg gegen die russischen Söldner mit Angriffsdrohnen, aus den Konflikten im Sudan oder in Äthiopien sind sie nicht mehr wegzudenken. Warum ist das der Fall? Weil aufmerksame militärische Beobachter von Konflikten erkennen, welche bahnbrechenden Möglichkeiten der Drohneneinsatz mit heute zur Verfügung stehenden Mitteln eröffnet. Konfliktparteien bestellen einfach übers Internet und bauen mit einem gewissen technischen Wissen, das kein Hexenwerk ist, sehr potente Waffensysteme in hoher Stückzahl, die militärisch potente Staaten und ihre Streitkräfte massiv unter Druck bringen.

Das gilt ja auch für die Frontlinie im Ukrainekrieg. Ist im Drohnenbereich nach wie vor Russland der Ukraine überlegen? Oder verschiebt sich dort etwas?

Es ist ein steter Kampf. Die Ukrainer und Russland versuchen gegenseitig immer wieder sich zu übertreffen oder zumindest nachzuziehen. Aber Stand jetzt haben die russischen Streitkräfte einen wichtigen Vorteil bei den per Glasfaserdrähten gesteuerten Drohnen. Die Russen bringen Spulen an den Drohnen an, die vor allem aus China im großen Stil geliefert werden. Auf diese Spulen ist bereits ein hochwertiger Glasfaserdraht aufgewickelt, und die Art und Weise der Wickeltechnik auf den Spulen ist hier ganz entscheidend. Sie ermöglicht, dass sich später auf dem Schlachtfeld der Draht ohne Widerstand abrollt, das vermeidet Störungen bei der Steuerung, die manche Drohnen zum Absturz bringen.

Wie eine Drahtspule über den Krieg entschied - es ist schwer zu fassen.

Ja, das erscheint absurd, aber wie man ja weiß, geht es in der Kriegsführung immer um Symmetrie und Asymmetrie. Beide Seiten versuchen, aus einer symmetrischen Situation in eine asymmetrische zu kommen, in die Überlegenheit. Durch ein Waffensystem, durch eine Fähigkeit, eine Taktik den Gegner zu überwinden. Oft machen dann auf den ersten Blick unscheinbare Fähigkeiten tatsächlich den Unterschied. Aktuell stehen diese entscheidenden Fähigkeiten häufig mit Drohneneinsatz in Verbindung.

Über das "gläserne Gefechtsfeld", das mittels Drohnen bis in den letzten Winkel aufgeklärt wird, haben wir schon öfters gesprochen. Wo spielt der Drohneneinsatz aktuell eine entscheidende Rolle an der Front?

Im Süden der Front schaffen Drohnen einmal mehr einen beachtlichen Effekt. Die Russen greifen zwischen Sumy im Norden und Saporischschja im Süden entlang der gesamten Front an und versuchen erkennbar, viele kleine Kessel zu bilden. Vor allem im Mittelabschnitt, von Slowjansk runter bis Pokrowsk, gleicht die Front immer mehr einer Wellenlinie. Die Wellenberge entstehen durch die Vorstöße der Russen. Diese Angriffsspitzen deuten Richtung Westen, zwischen diesen Spitzen aber beginnen sich kleine Kessel zu bilden. Die sehen wir bei Kupjansk, bei Borowka etwas südlich, und bei Seversk zum Beispiel. Torezk und Pokrowsk sind zwei von Einkesselung bedrohte Städte. Die operative Einsatzführung der Russen zielt darauf ab, den Ukrainern in diesen Kesseln die Logistik abzuschneiden und sie dann einzudrücken.

Wo liegt das Schwergewicht der russischen Kriegsführung derzeit?

Im Mittelabschnitt, also im Donbass. Aber auch nördlich von Sumy sind die Russen in der Lage, ausreichend Ressourcen zuzuführen. In Saporischschja, also ganz im Süden, kommt es ebenfalls zu schweren Angriffen, und hier kann ich zurückkommen auf das Beispiel für einen Vorteil aufgrund einer unscheinbaren Fähigkeit. Was wir aktuell vielerorts im Süden beobachten: Die russischen Truppen versuchen, die Brücken hinter den Ukrainern zu zerstören. Das Gelände dort im Süden ist von Flussläufen und Gewässern durchsetzt.

Das ist ja erstmal nicht schlecht als Hindernis für den Vormarsch der Angreifer, oder? Es kostet Zeit, konzentriert die Truppen an einer Stelle…

Aus dieser Perspektive sind die Flussläufe von Vorteil. Zugleich sind sie aber schwierig für die Verteidiger, die ihre Truppen jenseits der Flüsse versorgen und diese Flüsse also auch ständig überqueren müssen - mit Gerät, Munition, Lebensmitteln, aber auch mit Verwundeten, die von der Front abtransportiert werden. Die Brücken sind also derzeit für die Logistik der Ukrainer sehr wichtig, zugleich bereiten sie sich vor auf ein Szenario, in dem man sich zurückziehen muss, sich die Ereignisse überschlagen, und es dann entscheidend wäre, vorrückenden Russen das Überqueren der Flüsse schwer bis unmöglich zu machen.

Die Brücken also zu zerstören, sowie man sie selbst letztmalig genutzt hat?

Das ist das Ziel und das übliche Vorgehen: Die Ukrainer bringen jetzt bereits vorbereitete Sprengladungen unterhalb der Brücken an, die sie im Bedarfsfall nur noch zünden müssen. In den vergangenen 14 Tagen kursierten in den Netzwerken allerdings fünf Videos, auf denen Brücken im Rücken der ukrainischen Stellungen schon jetzt in die Luft flogen.

Auf drei dieser Videos war erkennbar, dass russische First-Person-View-Drohnen gezielt unter diese Brücken flogen, sich in die dort deponierten Sprengladungen hineinstürzten und damit die ganze Brücke zerstörten. Solch eine Drohne findet ihren Weg durch den schmalsten Spalt, durch Tarnnetze, sie entdeckt die Sprengladung, die Mine, was auch immer, und jagt die Brücke in die Luft. Und hier macht sich bemerkbar, was auch die Ukrainer gerade vor kurzem erst wieder betont haben: Mit Blick auf die Qualität glasfasergesteuerter Drohnen ist die russische Armee der ukrainischen überlegen . Diese Taktik übrigens, dem Gegner die Versorgung abzuschneiden, ist erkennbar als Vorphase eines größeren Angriffs zu werten.

Stichwort: Sommeroffensive?

Das Gesamtbild lässt diesen Schluss zu. In Vorbereitung auf einen Angriff in einem bestimmten Abschnitt der Front unterbindet man die Versorgung für die gegnerischen Truppen, damit man später, beim eigenen Angriff, rasch nach vorne kommt. Das sehen wir in der Frühjahrsoffensive der Russen, die vor allem dazu gedient hat, zukünftige Angriffsräume der Sommeroffensive zu isolieren. Diese Vorbereitungen häufen sich zurzeit. Wir sehen sie einerseits im mittleren Frontabschnitt, vor allem im Raum Sivertsk, wir haben das aber auch bei Saporischschja zum Beispiel gesehen, also im Süden.

Viele Berichte von der Front klingen, als laufe es für die Russen derzeit nach Plan. Sehen Sie das auch so?

Laut einer Analyse des "Wall Street Journal" hat die russische Armee im Mai so viel Gebiet in Besitz genommen, wie in keinem anderen Monat seit dem Einmarsch der Russen im Februar 2022. Zum Teil nehmen die Russen an einem Tag 15 bis 20 Quadratkilometer ein. Interessant ist dabei auch, dass die Verlustzahlen für Streitkräfte und auch für schweres Gerät bei den Russen zurückgehen.

Was kann das bedeuten?

Möglich wäre, dass die Russen hier versuchen, Gerät zurückzuhalten für etwas Größeres, das sie im Rahmen der Sommeroffensive vorhaben.

Die militärische Faustformel ist ja: Der Angreifer braucht auf "normalem" Gelände Mensch und Material im Verhältnis 3 zu 1. Dreimal so viele angreifende Soldaten und Waffen, wie die verteidigende Truppe einsetzt. Stimmt das Verhältnis für die Russen?

Verschiedene Thinktanks im Internet werten die Verlustzahlen beider Seiten aus. Da passieren hier und da auch Fehler, aber es gibt einen Trend: Das Verhältnis ist nicht 3 zu 1, sondern nur 2,4 zu 1. Bei Panzern liegt es bei 2,8 zu 1, also auch knapp unter 3. Das ist schlecht für die Ukraine, ein ungünstiges Verlustverhältnis. Die Ukrainer bräuchten eigentlich ein Verhältnis von 4 zu 1, noch besser 6 zu 1, um einen wirklich massiven Abnutzungseffekt auch auf russischer Seite zu erreichen. Auch Russland gehen natürlich die Ressourcen aus. Aber auf diesem Niveau ist die russische Armee sicher in der Lage, noch zwei, drei Jahre durchzuhalten.

Die Ukrainer brauchen also mehr Material von ihren Unterstützern - darauf läuft es wie immer am Ende hinaus?

Ich weise seit Jahren darauf hin, dass dieses Muster, nach langen Debatten ein bisschen zu liefern, auf dem Schlachtfeld nur sehr eingeschränkt Wirkung erzielt. Da macht kein einzelnes Waffensystem den Unterschied. Ich telefoniere jede Woche mit meinen ukrainischen Kameraden, so sie noch leben und nicht vermisst sind. Die Stimmungsbilder, die sie mir geben, sind sehr ernüchternd. Zu wenige Soldaten, zu wenig Gerät. Große Probleme bei der Ersatzteilbeschaffung. Als Militär muss ich immer wieder darauf hinweisen: Es wird deutlich zu wenig getan, um die Ukraine zu unterstützen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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