Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) bezeichnet ihn als „Rückschritt“, die Landes-SPD als „unzeitgemäß und gesellschaftlich problematisch“: Der Entwurf des neuen Berliner Kita-Bildungsprogramms sorgt derzeit in der Hauptstadt für Diskussionen.
Im Bildungsplan von 2014 seien die „Vielfalt von Familienformen ausdrücklich“ betont und „queere Perspektiven“ thematisiert worden, kritisiert der Berliner LSVD. Im neuen Papier fehlten diese Aspekte „nahezu vollständig“.
Alexander Freier-Winterwerb, jugendpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion erklärt WELT: „Vielfalt – ob in Bezug auf Herkunft, Familienform, Geschlecht, Sprache, Religion oder sexuelle Identität – ist in Berlin längst gelebte Realität. Diese Realität wird im Entwurf jedoch weder benannt noch pädagogisch eingeordnet.“ Der Text wirke „merkwürdig neutralisiert“. Er kritisiert etwa, dass die Akzeptanz und Wertschätzung verschiedener Familienformen nur in der Fußnote des Textes erwähnt würden. WELT liegt der Entwurf vor. Dort heißt es: „Jedes Kind ist Teil eines Familiensystems und wächst mit seinen Bezugspersonen auf. Das können Mutter und Vater sein, aber Kinder können auch bei alleinerziehenden Eltern, mit zwei Müttern oder zwei Vätern oder in anderen familiären Gemeinschaften aufwachsen.“
Für Freier-Winterwerb ist das zu wenig. Aus seiner Sicht ist in der Version von 2014 deutlich stärker auf die „Sensibilisierung für Vielfalt der Familienkulturen und Lebensformen in Berlin“ eingegangen worden. Für ein Versehen halte er es nicht, dass dies nun nicht mehr der Fall sein soll: „Gerade die Gruppen, die besonderen Schutz benötigen – queere Kinder, Kinder mit Transgeschwistern, Regenbogenfamilien oder Kinder mit Migrationserfahrung – fehlen vollständig. Das ist nicht nur ein bedauerliches Auslassen, sondern ein politisches Signal: Wer Vielfalt nicht benennt, macht sie unsichtbar – und nimmt Diskriminierung im pädagogischen Alltag billigend in Kauf.“
Der Berliner Senat für Bildung, Jugend und Familie, der von CDU-Politikerin Katharina Günther-Wünsch geführt wird, verweist darauf, dass es sich bei dem Entwurf um keine finale Version handele, sodass „hier auch noch weitere Expertise einfließen kann“. Tatsächlich ist der 165 Seiten lange Text, der nicht öffentlich zugänglich ist, auf jeder Seite mit dem Verweis „Vertraulicher Entwurf“ versehen.
Vielfalt müsse gezeigt werden, betont die CDU
Auch die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus betont, dass sich das Bildungsprogramm noch in der „Phase der Verbandsbeteiligung“ befinde. „Basierend auf den Rückmeldungen aus dieser Beteiligung wird der Entwurf gegebenenfalls angepasst werden“, teilt Roman Simon, Mitglied im Familienausschuss, mit. Es sei wichtig, „dass die vielfältigen Lebensrealitäten aus den Familien der Kinder im Alltag“ berücksichtigt würden. „So werden aus Sicht der CDU den Kindern keine Stereotypen oder verallgemeinernden Vorstellungen z.B. über Geschlechterrollen, Glauben oder Lebensweisen weitergegeben.“
Die AfD-Fraktion zeigt dagegen wenig Verständnis für die Kritik von SPD und dem Lesben- und Schwulenverband. In einer Pressemitteilung schreibt deren kinderpolitischer Sprecher Tommy Tabor: „Kinder zwischen zwei und sechs Jahren müssen spielen, sprechen lernen und soziales Verhalten entwickeln. Was sie ganz sicher nicht brauchen: Mit Themen zur Sexualität, welcher Spielart auch immer, konfrontiert zu werden.“ Gleichzeitig greift Tabor die SPD direkt an: Sie könne sich nicht „von der in linken Kreisen üblichen zwanghaften Beschäftigung mit der Sexualisierung von Kleinkindern“ lösen.
Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landesparlament, Marianne Buckert-Eulitz, sieht das anders. Sie sagt: „Vielfalt, Diversität, Inklusion sind keine Worthülsen, sie müssen sich im pädagogischen Alltag der Berliner Kita wiederfinden. Während der Entwurf rechtliche Inklusion anerkennt, fehlt die Unterstützung zur freien Entfaltung geschlechtlicher Identitäten komplett.“ Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) müsse sich beim Wort nehmen lassen, wenn er von Berlin als der Stadt der Vielfalt spreche. „Vielfalt beginnt bei den Kleinsten.“
Katrin Seidel, Sprecherin der Linken für Jugend und Familie, erklärt, es sei von großer Bedeutung, dass Diversität und queere Themen in der Kita „altersgerecht, professionell und sensibel“ behandelt würden. „Allein schon aus dem Grund, dass diese auch Teil der Lebensrealität von Kindern in der Kita sind. Kinder erleben gerade in einer Stadt wie Berlin, dass es nicht nur ein klassisches Familien- oder Beziehungsmodell gibt.“ Auf damit verbundene Fragen müsse es von Anfang an Antworten geben, die nicht diskriminierten.
Der Landeselternausschuss teilt mit, dass er noch nicht abschließend über den Entwurf beraten habe. Deren Vorsitzender Guido Lange sagt aber: „Grundsätzlich befürworten wir eine geschlechtersensible Pädagogik in Kitas, die in angemessener Form auch institutionell verankert sein sollte. Es wäre daher aus unserer Sicht notwendig und wünschenswert, dass sich dies auch im neuen Berliner Bildungsprogramm widerspiegelt.“
Der Bundesverband Trans schreibt WELT, den Text bisher nicht gesehen zu haben, teilt aber generell mit: „Kinder wachsen in verschiedenen Familienformen auf und es ist wichtig, dass sich Kinder aus allen Familienformen repräsentiert sehen. Werden bestimmte Familienformen nicht abgebildet, wirkt sich das negativ auf die Kinder aus, die in diesen Familienformen aufwachsen.“
Tim Rohrmann, Professor für Kindheitspädagogik an der Hochschule Hildesheim, kritisiert die derzeitige Diskussion. Der studierte Psychologe sagt, er habe den Text nicht gelesen, halte „die Berücksichtigung von Diversität – im Sinne von Vielfalt – in Bildungsplänen angesichts einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft“ aber für grundsätzlich wichtig. Er fordert: „Es sollte konkretisiert werden, was mit ‚Diversität‘ an dieser Stelle gemeint ist. Leider scheint er in letzter Zeit ein ‚Kampfbegriff‘ zu werden, der zu polarisierenden Diskussionen führt, die niemandem weiterhelfen.“
Sollte der Text nicht mehr angepasst werden, „bestünde die Gefahr, dass queere Themen in der frühkindlichen Bildung in Berlin künftig marginalisiert oder tabuisiert werden“, heißt es vom Berliner Lesben- und Schwulenverband in Deutschland. Geschäftsführer Florian Winkler-Schwarz sagt: „Das hätte konkrete Folgen: Kinder aus Regenbogen-Familien würden ihre Familienform nicht repräsentiert sehen, queere Kinder würden weniger Unterstützung in ihrer Identitätsentwicklung erfahren, und pädagogische Fachkräfte hätten keine klare Grundlage mehr, um Vielfalt aktiv sichtbar zu machen und Diskriminierung entgegenzutreten.“
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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