Deutschland schlägt einen Weg mit ungewissem Ausgang ein: Das Land bereitet sich vor für den Fall einer militärischen Konfrontation mit Russland. Das muss dringend und breit diskutiert werden - aber nicht mit so hanebüchenen Argumenten wie im Manifest linker SPD'ler.
Deutschland muss dringend reden. Die Bundesrepublik könnte bald jedes Jahr aufs Neue 150 Milliarden Euro oder gar 215 Milliarden Euro in Bundeswehr und andere Sicherheitsaufgaben stecken. Je nachdem, ob sich die Nato-Staaten auf Verteidigungsausgaben in Höhe von 3,5 oder 5 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts verständigen. Die Folgen wären enorm, die Anschlussfragen von immenser Tragweite. Darüber muss sich das Land als Ganzes verständigen - ebenso wie über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht oder über die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen. Da haben die Autoren des sogenannten SPD-Manifests völlig recht. Doch ihr Aufschlag zur Debatte erweist ebendieser einen Bärendienst - mit falschen Argumenten, Rechthaberei, Nebelkerzen und realitätsfernen Leuchttürmen.
Stegner, Mützenich und Co. weisen zu Recht darauf hin, dass ein solches Aufrüstungsprogramm Konsequenzen haben wird. Das Geld wird an anderer Stelle im Haushalt fehlen. Auch als Sondervermögen verbrämte Kredite müssen schließlich eines Tages getilgt und Zinsen gezahlt werden. Je mehr Deutschland bis dahin an Wirtschaftskraft verlieren sollte, desto schwerwiegender wird diese Zukunftsbelastung zu Buche schlagen. Zugleich ist weitgehend ungeklärt, wofür das Geld aufgewendet werden soll, wenn die Ausgaben denn abschreckende Wirkung erzielen sollen. Es ist zudem nicht ausgeschlossen, dass ein aggressiv aufrüstendes Deutschland mehr als bislang zu einem Angriffsziel werden könnte. Alles richtig.
Verdächtiges Raunen
Worüber das Manifest aber keine Auskunft gibt: Wie die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik anders auf die akut drohenden Gefahren reagieren könnte als durch Herstellung militärischer Robustheit. Stattdessen behaupten die Autoren, in der Bundesrepublik und weiten Teilen Europas hätten sich "Kräfte" - wie nebulös! - "durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie" suchten. Das ist das Raunen, das das Manifest so verdächtig macht.
Verquast behauptet das Manifest: Irgendwer bei Union, SPD und Grünen habe nur darauf gewartet, dass Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg auf einen souveränen Nachbarstaat den Vorwand liefert für ein viele Milliarden Euro schweres Aufrüstungsprogramm. Als wäre dieses Programm nicht aus von Putin aufgezwungener Verzweiflung geboren, sondern aus Kriegsgeilheit und Profitgier Industrie-naher Eliten - was so freilich nicht benannt wird. Hierzu passt die Manifest-Forderung nach einer auf Verteidigungswaffen beschränkten Aufrüstung. Was soll das bedeuten? Sollten Stegner und Mützenich Hinweise darauf haben, dass Schwarz-Rot in Wahrheit die Bundeswehr zur Invasionsarmee hochrüsten will, sollten sie diese dringend öffentlich machen.
Geschichtsstreit als Argumentationskrücke
In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" beklagt Mützenich, dass Angebote Moskaus über neue Abrüstungsverträge in der (auch schon fernen) Vergangenheit vom Westen übergangen worden seien. Zwar lässt sich auch über diese Behauptung streiten, doch damit liefe man in die Putin’sche Historienfalle, die auch das Manifest prägt. Der vom Nato-Doppelbeschlus geprägten Generation Stegner/Mützenich geht es erkennbar noch immer um den Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte. Sie führen mit Vorliebe Entscheidungen und Äußerungen von Willy Brandt, Helmut Schmidt, Egon Bahr an. Doch lassen die sich Jahrzehnte später, in ganz anderem Kontext, immer entlang der jeweils eigenen Interessen ausdeuten. Genauso wie die von Stegner und Mützenich viel zitierte Rolle der KSZE bei der De-Eskalation des Kalten Kriegs. Im Kern sind diese historischen Debatten Argumentationskrücken, die absolut nichts an der Gegenwart ändern, aber trefflich vom eigentlichen Thema ablenken. Putin beherrscht diese Strategie meisterlich.
Und so stecken auch die Bonner-Hofgarten-Pazifisten fest in ihrer Behelfsargumentation, weil sie auf die konkreten Fragen nach Alternativen zur Aufrüstung keine konkreten Antworten haben. Noch mehr diplomatische Anstrengungen fordern sie und insinuieren derart, Deutschland und die Partnerländer hätten China, Indien und anderen bisher nicht eindrücklich und freundlich genug den Ernst der Lage vermittelt. Haben sie aber. Dennoch sind die Führungen dieser Länder aus unterschiedlichen Motiven zu dem Schluss gekommen, sich Putin nicht in den Weg stellen zu wollen.
Was - konkret, bitte! - kann Diplomatie noch mehr tun? Die Autoren fordern ausgewählte Felder der Zusammenarbeit, um wieder in einen Dialog zu kommen. Mal abgesehen davon, dass diese Putin auch nicht von seiner schrittweisen Eskalation bis hin zur Vollinvasion der Ukraine abgehalten hat: Wer als Abgeordneter als Beispiel solch begrenzter Kooperation ernsthaft das Thema Cybersicherheit erwähnt, muss während der russischen Hackerangriffe auf den Bundestag im Sotschi-Urlaub gewesen sein.
Manifest relativiert Kriegsgefahr
Und nein, es kostet nichts und ist womöglich sinnvoll, in Europa über langfristige Strategien zur Abrüstung zu sprechen. Es ist ja zumindest theoretisch denkbar, dass in Washington, Moskau und Peking jemand zuhört. Es ist womöglich auch lohnenswert, in die verbliebene russische Zivilgesellschaft zu funken, dass Europa am Ende einer Wiederannäherung auch an "Konzepten gemeinsamer Sicherheit" interessiert ist, wie es die Autoren fordern. Doch geben solche Versuche keine Antwort darauf, wie zumindest ein baldiger Waffenstillstand in der Ukraine erreicht werden könnte.
Genauso wenig kann derlei Langfristplanung kurzfristig die Sicherheit der Bundesrepublik und ihrer Nato-Partner stärken. BND-Präsident Bruno Kahl warnt eindringlich, westliche Nachrichtendienste wüssten um russische Vorbereitungen, um die Nato mit einer Provokation zu testen. Man muss Kahl nicht glauben, wenn man ihn ominösen "Kräften" zurechnet. Aber wer mag heute noch ausschließen, dass Putin das Undenkbare tut, nachdem dieser so oft das bis dahin Undenkbare getan hat?
Dennoch ist im Manifest die Rede von einer "angeblichen" Kriegsgefahr, relativiert durch die Behauptung, die europäischen Nato-Streitkräfte seien auch ohne die USA der russischen Armee konventionell überlegen. Selbst wenn das stimmte, herrscht ein Ungleichgewicht: Am Völkerrecht orientierte Demokratien führen Krieg nach dem Prinzip, möglichst viele Menschenleben zu schonen - einschließlich der eigenen Soldaten. In Putins sich immer schneller drehendem Fleischwolf ist das Leben der eigenen Soldaten noch wertloser als das der 2500 getöteten ukrainischen Kinder - diese sind für den Kreml-Despoten nämlich von strategischem Wert.
Offenkundig muss man immer wieder klarmachen, mit wem es die Ukraine und ihre Unterstützerstaaten zu tun haben. Jede Relativierung von Putins Ruchlosigkeit, das Behaupten ausgebliebener, tatsächlich aber vergeblicher diplomatischer Bemühungen, das Raunen über kriegswütige "Kräfte" in der deutschen Politik und Wirtschaft: all das verzerrt und vergiftet die Debatte.
Mützenich, Stegner und Co. fordern richtigerweise, dass die so wichtige Diskussion über Aufrüstung und militärische Konfrontation mit Respekt und frei von persönlichen Anwürfen geführt werden kann. Sie selbst haben die Chance dazu mit ihrem hochtrabenden Manifest ein Stück weit vertan. Aber wie dieser so existenzielle Streit in der Sache angefangen hat, so muss er ja nicht enden. Es lohnt sich schließlich immer, über Frieden zu reden.
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