Er hat es geschafft: Nach einer Vertrauensfrage am Mittwochnachmittag im Sejm, dem Unterhaus des polnischen Parlaments, konnte Premierminister Donald Tusk 243 Stimmen holen, zwölf mehr, als er mindestens gebraucht hätte und eine mehr, als seine Koalition über Sitze verfügt. Enthaltungen gab es keine, bei 210 Gegenstimmen. Damit hat Tusk sich die erforderliche Mehrheit für seine Regierungspolitik gesichert.

Formal besetzt Tusks Regierungskoalition 242 von 460 Sitzen und verfügt damit ohnehin über eine absolute Mehrheit. Doch einzelne Politiker der Koalitionsparteien hatten im Vorfeld des Votums Zweifel an ihrer Loyalität gesät, allen voran Szymon Holownia, der Vorsitzende der Partei Polen 2050, der gleichzeitig das Amt des Sejmmarschalls innehat, das des Parlamentspräsidenten.

Er fühlte sich offenbar von Tusks Entscheidung, das Parlament zu befragen überrumpelt. Der Premier sagte nach der erfolgreichen Abstimmung: „Ich habe dieses Votum aus offensichtlichen Gründen gebraucht. Es gab Spekulationen, ob die Regierung hält. Unter solchen Umständen arbeitet es sich schlecht.“

Allerdings gilt nach wie vor, dass nichts sicher ist: Spätestens seit der Stichwahl um die Präsidentschaft am 1. Juni ist das scheinbar das Naturgesetz der polnischen Politik. Mit 50,9 Prozent der Stimmen wurde Karol Nawrocki, der Kandidat der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), zum Präsidenten gewählt – nachdem Rafal Trzaskowski von Tusks Bürgerkoalition (PO) in einer ersten Nachwahlbefragung nach 21 Uhr am Wahlabend 50,3 Prozent erhalten hatte. Es ist dieser Wahlausgang, durch den Tusk sich gezwungen sah, die Vertrauensfrage im Parlament zu stellen.

Es steht zu vermuten, dass Nawrocki eine ähnliche Politik betreiben wird, wie Noch-Präsident Andrzej Duda, der nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten konnte. Duda sabotiert seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Tusk im Dezember 2023 konsequent dessen Regierungspolitik.

Seiner verfassungsmäßig festgeschriebenen Rolle als parteipolitisch neutraler Präsident kommt er nicht nach. So legte er etwa sein Veto gegen eine Reihe von Gesetzesinitiativen ein; auch kann der Präsident Gesetze zur Überprüfung an das Verfassungsgericht delegieren. Und das ist immer noch von PiS-treuen Richtern besetzt.

Seit eineinhalb Jahren kann Tusk seine Reformpolitik vor allem deswegen nicht umsetzen – wobei zumindest Einigkeit in der Verteidigungspolitik und bei der Unterstützung der Ukraine besteht; auch ist die polnische Wirtschaft weiter auf Wachstumskurs. Doch Tusk und seine Koalition sind mittlerweile gerade bei den eigenen Wählern so unbeliebt wie kaum eine polnische Regierung zuvor. Ihr lasten sie an, Wahlversprechen wie eine Rücknahme des Justizumbaus der PiS oder eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechts nicht eingelöst zu haben.

Die Präsidentschaftswahl war daher auch eine Abstimmung über Tusks Politik. Der sah bereits am Abend zerknirscht aus, er wusste schnell, dass seine Regierung mit einem Präsidenten Nawrocki in den bis zur nächsten Parlamentswahl verbleibenden zweieinhalb Jahren kaum eine Reform wird umsetzen können – und dadurch bis 2027 weiter an Zustimmung einbüßen dürfte.

Tusk kündigt Regierungsumbildung an

Für Europa bedeutet das, dass Polen politisch kaum zu Deutschland und Frankreich aufschließen wird. Eine Regierung, die innenpolitisch handlungsunfähig ist, hat außenpolitisch nur wenig Gewicht – in jedem Fall keins, das Polens Potenzial als größtes Land an der Nato-Ostflanke, als Rüstungsprimus der Allianz und Wirtschaftswachstumslokomotive der EU gerecht werden könnte.

„Die Vertrauensfrage im polnischen Parlament ist ein Instrument, das Regierungschefs in Phasen der Instabilität nutzen, um wieder handlungsfähig zu werden“, erklärt im Gespräch mit WELT Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. Tusk sei angeschlagen und versuche nun, wieder in die politische Offensive zu kommen, sagt der Experte weiter.

Doch seine Autorität im Regierungslager ist nur teilweise hergestellt. Die Frage ist, welche Absprachen stattgefunden haben oder stattfinden werden und wie diese Regierung politische Projekte überhaupt umsetzen kann. Vielleicht, darauf hoffen einige im politischen Warschau, lässt sich mit Nawrocki doch eine gewisse Kohabitation zustande bringen. „Wir können in den nächsten Wochen mit einer Regierungsumbildung rechnen und damit, dass Tusk Zugeständnisse an seine Koalitionspartner macht“, sagt Loew.

Eine Regierungsumbildung hat der Premier tatsächlich schon angekündigt; erste Koalitionspartner stellen bereits Forderungen. „Die Regierungsumbildung muss so schnell wie möglich erfolgen, und das ist das Wichtigste, und das habe ich dem Premierminister gesagt“, so Szymon Holownia, Chef von Polen 2050, noch vor der Abstimmung. Es sei dringend notwendig, so Holownia weiter, den „Koalitionsvertrag im Programmteil“ neu zu verhandeln. Dazu kündigte Norbert Pietrykowski, Abgeordneter von Polen 2050 schon an, sich um das Amt des Regierungssprechers zu bemühen. Tusks PO dürfte gegenüber den Koalitionspartnern nach der Abstimmung zurückstecken.

Denn der Ausgang von Urnengängen in Polen hängt seit einiger Zeit an nur wenigen Stimmen, Meinungsforschungsinstitute liegen regelmäßig daneben und auch auf Koalitionspartner ist bisweilen kein Verlass. Daher war am Mittwoch, im Vorfeld der Vertrauensfrage, eben auch nicht fest davon auszugehen, dass Tusk die erforderlichen Stimmen bekommt. Allerdings schien dann doch die Angst vor seinem Rücktritt und unter Umständen vorgezogenen Neuwahlen überwogen zu haben. Zwei von drei Wahllisten der Regierung dürften in einer solchen Lage verlieren.

Es war nicht seine erste Vertrauensfrage

Tusks Bürgerkoalition bekäme einer aktuellen Umfrage für das Online-Medium WP zufolge 33 Prozent der Stimmen, die beiden anderen Listen, Dritter Weg und die Linke, würden jedoch verlieren – womit eine Regierungsmehrheit nicht gesichert wäre. Nach der Vertrauensabstimmung im Sejm sieht es allerdings erst mal so aus, als könnte die Tusk-Regierung bis 2027 weitermachen.

Dass es grundsätzlich riskant ist, die Vertrauensfrage im Sejm zu stellen, dass er sich jedoch die erforderlichen Stimmen holen kann, um seine Autorität in der Regierungskoalition zu sichern, wusste Tusk. Es war schließlich nicht seine erste Vertrauensfrage. Bereits in den Jahren 2012 und 2014, in seiner zweiten Amtszeit als Premierminister, bevor seine Partei 2015 die Regierungsverantwortung an die PiS abgeben musste, ließ Tusk sich seinen Kurs erfolgreich bestätigen. Ob er sich überhaupt noch mal zur Wahl stellt, scheint jedoch immer weniger wahrscheinlich. Der 68-Jährige müsste bald einen Nachfolger an der Parteispitze aufbauen.

„Mittelfristig stellt sich die Frage, ob Tusk noch der richtige Mann für den Posten ist. Spätestens im Vorfeld des Wahlkampfs von 2027, wenn ein neues Parlament gewählt wird, dürfte die Diskussion darüber an Fahrt aufnehmen“, vermutet Loew vom Deutschen Polen-Institut.

Dabei wird der neue Präsident vielleicht eine entscheidende Rolle spielen. „Ich glaube, Tusk hat Respekt vor Nawrocki und dessen Kämpfernatur. Das liegt daran, dass er das Milieu gut kennt, aus dem Nawrocki stammt: Wie Tusk kommt auch Nawrocki aus Danzig und beide sind Historiker. Beide sind in der Stadt verankert“, sagt Loew. Nawrocki stamme aus einem Werftarbeitermilieu, es sei eine Geschichte von sozialem Aufstieg. „Tusk fragt sich wahrscheinlich gerade, wen er jetzt noch in Stellung bringen kann, um einer Person mit so einer Biografie zu begegnen“, vermutet Loew.

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

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