Unterstützt vom Ex-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich fordern zahlreiche SPD-Mitglieder eine Umkehr bei der Aufrüstungspolitik und eine diplomatische Annäherung an Russland. Der langjährige SPD-Außenpolitiker Michael Roth zeigt sich im Interview mit ntv.de entsetzt und fassungslos - insbesondere über Mützenich. Diesem wirft der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses vor, der von der eigenen Partei getragenen Regierung ein "Bein zu stellen". Dennoch müsse die SPD-Führung die Diskussion aufgreifen - und selbstbewusst dagegenhalten.

ntv.de: Ralf Stegner, Rolf Mützenich und viele andere SPD-Politiker und -Mitglieder fordern einen ganz anderen Ansatz in der Friedens- und Sicherheitspolitik. Was haben Sie beim Lesen des sogenannten Manifests gedacht?

Michael Roth: Ich wollte das anfangs gar nicht glauben, weil ich hoffte, dass wir in der SPD inzwischen deutlich weiter sind. Wir haben uns offenkundig auf dem - wie ich finde - sehr guten und auch sehr selbstkritischen Grundsatzbeschluss zur Außen- und Sicherheitspolitik ausgeruht, den der SPD-Parteitag im Dezember 2023 gefasst hatte. Damals hielt Rolf Mützenich eine Rede, die inhaltlich überhaupt nicht zum Antrag passte und erntete dafür stehenden Applaus. Mir war in dem Moment klar: Da stimmt etwas nicht. Die SPD-Führung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie auf diese Schieflage zwischen Beschluss und Stimmung in der Partei nicht reagiert hat. Wir hätten die Debatte weiterführen müssen, statt diese abzuheften.

Das Manifest fordert eine Annäherung an Russlands Regierung und unterstellt faktisch, es habe keine ausreichenden Bemühungen zu einer diplomatischen Befriedung des Kriegs gegen die Ukraine gegeben. Wie bewerten Sie das?

Jeder Debattenbeitrag ist grundsätzlich willkommen, weil wir über die Zumutungen der Aufrüstung sprechen müssen. Verteidigungsausgaben in Höhe von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind eine immense Summe. Aber das sogenannte Manifest ist kein Debattenbeitrag, das ist Geschichtsklitterung. Die Autoren bedienen die Erzählung, dass Russland nicht der alleinige Aggressor in diesem Krieg sei und der politische Westen die Hand zum Dialog mit Putin nicht ausreichend ausgestreckt habe.

Und das ist falsch?

Es ist zu diesem Zeitpunkt falscher denn je: In den vergangenen Wochen hat es unendlich viele, letztlich vergebliche Versuche gegeben, Putin an den Verhandlungstisch zu bringen. Die US-Regierung hat immensen Druck auf die Ukraine ausgeübt, damit Kiew einem Waffenstillstand zustimmt. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat faktisch alle Forderungen Washingtons erfüllt. Derweil bombardiert Putin mehr denn je zivile Ziele in der Ukraine. Es macht mich fassungslos, dass das Manifest all diese Bemühungen und auch die diplomatischen Anstrengungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik komplett ausblendet.

Die Autoren verweisen darauf, dass die westlichen Staaten - angeführt von den USA - selbst das Völkerrecht und geltende Abrüstungsverträge missachtet hätten. So argumentiert auch Moskau.

Diese russischen Erzählungen sind in der SPD genauso weitverbreitet wie in der deutschen Bevölkerung. Da heißt es, die russischen Sicherheitsinteressen seien missachtet worden. Das ist grober Unsinn! Und dahinter steckt das beschämende Konzept einer beschränkten Souveränität. Wer so argumentiert, spricht der Ukraine und anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion das Recht auf volle Selbstbestimmung ab. Diese Denke passt weder ins 21. Jahrhundert noch zu einer internationalistischen Partei wie der SPD.

Die Autoren des Manifests schreiben von einem "angeblich drohenden Krieg". Greifen Sie damit nicht eine verbreitete Stimmung auf? Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass Putin zwingend als Nächstes Deutschland angreift.

Das ist der nationalistische Zungenschlag, für den es unerheblich ist, wenn als nächstes Litauen angegriffen wird. Das ist eine selbstgefällige und sehr arrogante Abwendung von der Nato-Beistandsverpflichtung, von der Deutschland über Jahrzehnte massiv profitiert hat. Da wird von direkten Beziehungen zwischen Berlin und Moskau fabuliert, über die Interessen unserer mitteleuropäischen Partner hinweg. Dabei ist genau dieser Ansatz doch krachend gescheitert. Eigentlich schon mit dem Krieg Russlands gegen Georgien, spätestens aber mit der Krim-Annexion 2014. Diese Politik hat Deutschland immens viel Ansehen bei unseren Verbündeten gekostet, nicht nur bei denen im Osten.

Mit dem langjährigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich gehört ein maßgeblicher SPD-Akteur der Ampel-Jahre zu den Unterzeichnern.

Mich verwundert, dass der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende einer von der eigenen Partei getragenen Regierung und dem eigenen Verteidigungsminister - dem beliebtesten Politiker des Landes - derartig ein Bein zu stellen versucht. Derselbe Fraktionsvorsitzende übrigens, der mir immer wieder vorgeworfen hatte, die Solidarität der Partei mit mir massiv überzustrapazieren. Dass einer der vor Kurzem noch mächtigsten Politiker Deutschlands diesen Beitrag als bloße Meinungsfreiheit deklariert, finde ich zudem verantwortungslos.

Der SPD-Bundesparteitag Ende Juni naht. Der zur Wiederwahl stehende Vorsitzende Lars Klingbeil hat viel Mühe darauf verwendet, die SPD außenpolitisch ganz anders auszurichten, als es Rolf Mützenich und Ralf Stegner nun fordern. Was erwarten Sie für die SPD-interne Debatte? Das wird ja Folgen haben.

Es muss Folgen haben. Erstens erwarte ich jetzt endlich eine breite Debatte in der Gesellschaft, die von der SPD maßgeblich geführt werden muss. Wir können solche Positionen wie in dem Manifest nicht tot- oder verschweigen. Wir müssen ihnen mit Argumenten begegnen. Deswegen hoffe ich, dass das Willy-Brandt-Haus dieses Rumoren aufgreift, statt die Diskussion herunterzukochen. In einer Partei, in der die Mehrheit der Mitglieder deutlich über 60 Jahre alt ist, stößt solch ein Manifest überwiegend älterer Politikerinnen und Politiker auf große Resonanz. Deswegen müssen die führenden SPD-Leute in der Regierung und unsere Parteivorsitzenden jetzt für ihre Überzeugungen kämpfen.

Die SPD ist für ihre Unterstützung der Ukraine und das Bekenntnis zur Aufrüstung nicht gerade belohnt worden im Bundestagswahlkampf.

Die SPD hat ja einen Angstwahlkampf geführt. Montags hat man der Ukraine weitreichende Unterstützung zugesagt und dienstags und freitags auf den Kundgebungen vor einer militärischen Eskalation gewarnt. Union und Grüne sind für eine weitreichendere Unterstützung der Ukraine und mehr Wehrhaftigkeit gewählt worden. Diejenigen, die das ablehnen, haben ihr Kreuz bei AfD und BSW gemacht. Die SPD ist durchgefallen. Nach dem kläglich gescheiterten Wahlkampf kann ich der SPD nur raten, eine klare Haltung anzunehmen. Darin liegt auch eine Chance: Wir machen Deutschland verteidigungsfähig, ohne dass im Gegenzug Bildung, der Sozialstaat oder die Infrastruktur auf der Strecke bleiben.

Mit Michael Roth sprach Sebastian Huld

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