In seinem bürgerlichen Leben brachte er seine Kinder zur Schule und koordinierte als Bauingenieur die Pläne für die Restaurierung von Gebäuden auf der Berliner Museumsinsel. In seinem Leben als gewerbsmäßiger Drogendealer schleppte Artur Witte dagegen Rollkoffer voller Cannabis und anderer illegaler Substanzen durch die Gegend – und scheffelte so viel Geld, dass er es sich leisten konnte, beim Feiern an einem einzigen Abend mehrere Tausend Euro auszugeben.
Nun sitzt der 44-Jährige hinter Gittern. Denn das Landgericht Berlin verurteilte Artur Witte, der eigentlich anders heißt, im Januar 2024 zu sieben Jahren und drei Monaten Gefängnis.
Die Polizisten, die den Drogendealer mit dem bemerkenswerten Doppelleben zur Strecke brachten, gehören einer Ermittlergruppe mit besonderem Auftrag an: Sie sollen jene Drogen- und Waffenhändler überführen, die ihre Geschäfte mithilfe sogenannter EncroChat-Handys abwickelten, also in kryptierten Nachrichten unverhohlen über die nächste Kokain- oder Kriegswaffenlieferung sprachen.
Die Verschlüsselung der Geräte des im Verborgenen agierenden Anbieters EncroChat schien nicht zu knacken zu sein. Dann aber, im Frühjahr 2020, entdeckten französische Sicherheitsbehörden in der Software des „WhatsApp für Kriminelle“ eine Schwachstelle – und konnten die Nachrichten dechiffrieren. Die Behörden konnten so rund zwei Monate lang mitlesen: wenn es um die nächste Kokain-Lieferung ging oder ein Geschäft mit Kriegswaffen – oder um ein Killerkommando, das die Konkurrenz ausschalten sollte.
Für die Sicherheitsbehörden waren die entschlüsselten EncroChat-Nachrichten Fluch und Segen zugleich. Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften hatten nun Beweismittel über Aktivitäten von Drogen- und Waffenhändlern, denen sie sonst niemals auf die Spur gekommen wären. Das war der Segen. Zumindest anfangs waren sie mit der schieren Anzahl dieser Beweise aber schlichtweg überfordert – und konnten die Verfahren kaum abarbeiten. Das war der Fluch.
Die Strafverfolgungsbehörden mussten sich neu aufstellen, um die Ermittlungsverfahren bearbeiten zu können. Die Staatsanwaltschaft Berlin schuf im Januar 2022 etwa die Abteilung 279 zur Bearbeitung von Rauschgiftsachen, die sich aus der Auswertung der EncroChat-Daten ergeben, und nicht in den Abteilungen für Organisierte Kriminalität bearbeitet werden. Also Fälle wie der von Artur Witte, der zu keiner größeren Struktur gehörte, aber ein Doppelleben führte und in großem Umfang mit Drogen dealte.
Berlin zählt im Encro-Chat-Komplex zu den besonders betroffenen Bundesländern. Mit 740 erfassten Fällen und hunderten Beschuldigten liegt die Hauptstadt im bundesweiten Vergleich auf dem Spitzenplatz. Deutschlandweit gab es im Zusammenhang mit Encro-Chat-Verfahren mehr als 1700 Festnahmen.
Nun, rund fünf Jahre nach der Entschlüsselung von EncroChat, ist der Verfahrensstau im Wesentlichen abgearbeitet – und auch Nicolai Becks zieht Bilanz. Der Kriminalhauptkommissar arbeitet in der Berliner Polizeidirektion 5 und steht der Ermittlergruppe „Büchse“ voran – jener Einheit, die auch dem Drogenhändler Artur Witte anhand seiner EncroChat-Gespräche und aufwendiger Observationen und weiterer Ermittlungsmaßnahmen unzählige Drogengeschäfte nachweisen konnte.
Zuletzt gehörten Becks‘ Ermittlergruppe acht Beamtinnen und Beamte an. Rund vier Jahre nach seiner Gründung wird das Team nun aufgelöst. Denn die Kriminalisten haben ihren Auftrag erfüllt – und die ihnen übertragenen Fälle zu einem Abschluss gebracht.
Ihre Bilanz zeigt exemplarisch, dass die EncroChat-Daten für die Sicherheitsbehörden einer Goldgrube glichen: In den 73 Datenpaketen, die die EG Büchse zu bearbeiten hatte, konnte das Team 86 Prozent der Tatverdächtigen identifizieren. Mehr als 20 EncroChat-Nutzer wurden wegen ihrer kriminellen Geschäfte verurteilt – zu insgesamt mehr als 100 Jahren Gefängnis. Die Ermittler stellten bei ihnen mehr als eine halbe Tonne illegaler Substanzen und 1,85 Millionen Euro Bargeld sicher sowie zwölf Schusswaffen und rund 1.100 Stück Munition.
Die Entschlüsselung der EncroChat-Kommunikation war für die Ermittlungsbehörden eine riesige Chance. „Um die Hintermänner zu identifizieren, mussten wir uns im Bereich der Rauschgiftkriminalität oft mühevoll vom Kleindealer hocharbeiten“, sagt Ermittler Becks. „Durch die EncroChat-Daten konnten wir oft direkt bei den Großdealern ansetzen und bekamen die Beweismittel wie auf einem Präsentierteller geliefert“.
Die Dealer zu identifizieren, die sich hinter den Fantasienamen von EncroChat verbargen, sei allerdings eine große Herausforderung gewesen. Anfangs habe es auch eine große Unsicherheit gegeben, ob die deutschen Behörden die ohne jeden Anfangsverdacht abgefangene Kommunikation für die Strafverfolgung überhaupt nutzen durften. „Wenn wir einen Fehler gemacht hätten, hätten die Gerichte die Verwertung der EncroChat-Nachrichten vielleicht ganz grundsätzlich abgelehnt“, sagt Becks. „Es war deswegen umso wichtiger, dass wir sehr sorgfältig arbeiten.“
Die Arbeit in der „EG Büchse“ bescherte den Ermittlern Einblicke und Erlebnisse, die sie ohne die Entschlüsselung von EncroChat wohl niemals erlangt hätten. Neben dem Doppelleben des Projektmanagers und gewerbsmäßigen Drogendealers Artur Witte bleibt Becks und seinen Kollegen auch der Fall einer Bande in Erinnerung, die ihre Drogen im Imbiss eines Berliner Freibades versteckt hatten – und ihr Geld und ihre Goldbarren in einem Spätkauf. Der Anführer wurde aufgrund der Ermittlungsergebnisse der „EG Büchse“ zu einer Strafe von achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Die „EG Büchse“ sei vor allem deswegen so erfolgreich gewesen, weil niemand gegen seinen Willen in die Einheit abgeordnet wurde. „Wir durften uns die Leute aussuchen, die wirklich motiviert waren“, sagt Becks. Nun bekommen seine Leute und er eine neue Aufgabe. Sie sollen an neuen Fällen in einem anderen kriminellen Milieu ermitteln. Auf entschlüsselte Nachrichten wie im Fall der EncroChat-Kommunikation des Projektmanagers und Drogendealers Artur Witte können sich die Ermittler dann aber nicht mehr stützen. Ermittler Becks: „Wir werden uns etwas Neues einfallen lassen müssen.“
Wir sind das WELT-Investigativteam: Haben Sie Hinweise zu Missständen bei der Unido oder ähnlichen Themen? Dann melden Sie sich gerne, auch vertraulich – per E-Mail oder über den verschlüsselten Messenger Threema (X4YK57TU).
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke