Generalfeldmarschall Erich von Manstein gilt bis heute als Sinnbild des brillanten, aber unpolitischen Strategen – ein Bild, das eng mit dem Mythos der "sauberen Wehrmacht" verknüpft ist. Im Zweiten Weltkrieg kommandierte er deutsche Truppen beim Überfall auf Frankreich, später an Schlüsselstellen der Ostfront wie Stalingrad, Charkow und Kursk. Anfang 1944 wurde Manstein nach wiederholten Meinungsverschiedenheiten mit Adolf Hitler abgesetzt. Nach dem Krieg verurteilte ihn ein britisches Militärgericht wegen Kriegsverbrechen zu 18 Jahren Haft. 1953 vorzeitig entlassen, diente er später als Berater der Bundeswehr.
Der Historiker Roman Töppel hat Mansteins bislang unveröffentlichte Kriegstagebücher und privaten Briefe herausgegeben. Im Gespräch mit ntv.de erklärt er, warum der Mythos Manstein neu bewertet werden muss.
ntv.de: Herr Töppel, in Ihrem neuen Buch beschäftigen Sie sich mit den bislang unveröffentlichten Kriegstagebüchern Erich von Mansteins und den privaten Briefen an seine Frau. Wie kam das Projekt zustande?
Roman Töppel: Der Nachlass von Erich von Manstein befand sich im Besitz seines jüngsten Sohnes Rüdiger, der nur wenigen Auserwählten Zugang gewährte. Im Rahmen meiner Recherche für mein Buch zur Schlacht bei Kursk, das 2017 erschienen ist, habe ich Rüdiger von Manstein kontaktiert und eine positive Antwort erhalten. Er stellte mir daraufhin Unterlagen aus dem Kriegsjahr 1943 zur Verfügung. Ende 2018 schrieb er mir dann überraschend, ob ich nicht Lust hätte, den gesamten Nachlass aufzuarbeiten. Ich ließ mir dann vertraglich zusichern, dass ich absolut unabhängig damit arbeiten kann, ohne Einflussnahme der Familie.
Welche Herausforderungen haben Sie bei der Arbeit erlebt?
Ich habe die Materialfülle völlig unterschätzt. Die Abschrift der Kriegstagebücher umfasst ungefähr 250 Seiten in Word. Zudem haben Erich und Jutta-Sibylle von Manstein von 1939 bis Anfang 1944 ungefähr 2400 Briefe gewechselt, davon sind etwa 2200 erhalten. Hinzu kommen mehrere Kartons mit militärischen Unterlagen. Und: Manstein hatte eine sehr schwer lesbare Handschrift.
Gibt es Hinweise auf Selbstzensur und Inszenierung?
Definitiv. Ich bin mir sicher, dass Manstein Tagebuch führte und Unterlagen sammelte, um später seine Memoiren zu schreiben. In den Briefen an seine Frau erkennt man eine klare Selbstzensur. Er entschärfte seine Schilderungen, offenbar um sie nicht zu beunruhigen. Eine Selbstinszenierung findet dann nach dem Krieg in Mansteins Memoiren statt.
Inwiefern?
In seinen Memoiren lässt Manstein vieles weg, verdreht Tatsachen oder stellt sie anders dar, als er sie damals notiert hatte. Zum Beispiel zweifelte Manstein Hitlers Führungsanspruch nie an, zweimal bezeichnete er ihn sogar als "Genie". Das liest sich dann in seinen Memoiren anders. Da kritisiert er Hitler und stellt dessen militärische Kompetenz in Frage.
Vor der Veröffentlichung Ihres Buches sagten Sie einmal, Ihre Forschung werde das gängige Bild über den Westfeldzug "über den Haufen werfen". Was meinen Sie damit?
Der größte Mythos über die Invasion Frankreichs ist, dass die Wehrmacht einem abgewandelten Operationsplan Mansteins gefolgt sei. Und das stimmt nicht. Der sogenannte "Sichelschnittplan" geht nicht auf Manstein zurück, sondern auf Hitler. Das ist die grundlegende Erkenntnis meiner Forschungsarbeit. Manstein hatte einen ähnlichen Plan, der aber nicht zur Anwendung kam. Hitlers Idee wurde von Generalstabschef Franz Halder mangelhaft ausgearbeitet. Der Plan funktionierte nur, weil die Alliierten auf taktischer und operativer Ebene versagten. Mansteins Überlegungen waren hingegen deutlich besser und ausgereifter.
Heißt, die Geschichte des Westfeldzugs muss neu geschrieben werden?
Ja, das kann man so sagen. Die entscheidenden Köpfe hinter Planung und Durchführung des Feldzuges waren andere als angenommen. Die Legende um Manstein entstand nach dem Krieg, als viele ehemaligen Generäle versuchten, das Bild einer äußerst befähigten und "sauberen Wehrmacht" zu zeichnen. Demnach war Halder der professionelle Planer, wohingegen Hitler der Dilettant war, der für alle Fehler und Verbrechen verantwortlich gemacht wurde.
Wie beurteilte Manstein die Wehrmachtführung und Hitler?
Er kritisierte im Tagebuch mehrfach das Oberkommando des Heeres, vor allem Halder - nicht Hitler. Das überrascht, weil es dem Bild widerspricht, das er später in den Memoiren zeichnet. Auch andere Generäle, mit denen er spricht, sehen Halder als Problem. Manstein kritisierte Hitler zwar gelegentlich - aber ausschließlich in militärischen Fragen. Politisch stellte er sich nie gegen ihn.
Wie war sein Verhältnis gegenüber dem Nationalsozialismus?
Manstein sah sich als unpolitischen Soldaten. Tatsächlich kann man sein Verhältnis zum NS-System als völlig naiv bezeichnen. In einem Brief vom November 1939 beklagt er sich bei seiner Frau darüber, dass die Alliierten als Kriegsziel verkündet hätten, den Nationalsozialismus vernichten zu wollen. Das könne denen doch egal sein, schreibt er, schließlich gehe es ja nur um eine "Regierungsform". Dass der Nationalsozialismus eine verbrecherische Ideologie war, scheint er nicht begriffen zu haben.
Hat sich Ihr Bild von Manstein durch die Arbeit geändert?
Ja. Vorher hatte ich ihn als kühlen, distanzierten Militärstrategen im Kopf. Die Briefe zeigen aber einen fürsorglichen und liebevollen Ehemann und Vater, der sich um seine Familie sorgte. Gleichzeitig verdeutlichen seine Tagebücher seine großen operativen Fähigkeiten. Oft habe ich mich gefragt: Wie konnte Manstein in seinen Planungen so weit vorausdenken? Da gehört großes Talent dazu.
Schrieb Manstein auch über deutsche Kriegsverbrechen und den Holocaust?
In seinem Tagebuch nicht. Es gibt aber einen Brief aus dem Juni 1943. Darin schildert er ein Gespräch mit dem Pfarrer der Heeresgruppe Süd. Der Geistliche sagt, Gott werde das deutsche Volk für die Verbrechen an den Juden bestrafen. Manstein antwortet: Die Juden seien selbst schuld, sie hätten den Krieg angezettelt. Hier zeigt sich: Manstein hatte das Narrativ der NS-Propaganda verinnerlicht.
Mit Roman Töppel sprach Janis Peitsch
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