Einer meiner Freunde ist endlich aus dem Gefängnis entlassen worden. Er ist der erste enge Freund, der es nach vier Jahren hinter Gittern wieder in die Freiheit geschafft hat. Vier Jahre Haft, weil er sich 2020 in Hongkong als Kandidat bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei aufstellen ließ. In dem Moment, als neben seinem Namen die drei Punkte in der Messenger-App wieder aufleuchteten, während er mir schrieb, ist in mir etwas aufgebrochen.
Es war, als hätte ich am helllichten Tag einen Geist gesehen. Als würde man etwas wiederfinden, das man längst verloren geglaubt hat – und dann liegt es plötzlich direkt vor einem. Noch tröstlicher: Er hat sich nicht verändert. Gut, er hat ein paar Kilo verloren, aber abgesehen davon ist er noch derselbe Mensch. Derselbe Ton in seinen Nachrichten, derselbe trockene Humor. Damit rechnet man nach vier Jahren in einem Käfig nicht unbedingt.
Wir fingen an, uns auszutauschen. Am Anfang wusste ich nicht recht, was ich sagen sollte. Ich war unsicher, wo die Grenzen lagen und wollte nicht zu direkt nach dem Leben im Gefängnis fragen. Es fühlte sich aufdringlich an, vielleicht sogar grausam.
Also habe ich einfache, unbeholfene Fragen gestellt. „Ist deine innere Uhr jetzt sehr strikt eingestellt?“ Oder: „Gab es zwischen Lester und Joshua (die Aktivisten Lester Shum und Joshua Wong sind weiterhin in Haft, d. Red.) im Gefängnis viel Kontakt? Ich habe gehört, sie haben sich gegenseitig angeschrien, um sich zu unterhalten.“ Mein Freund hat jede Frage geduldig beantwortet. Ohne Zögern, offen und ehrlich.
Dann haben sich weitere Freunde dazugeschaltet, und die Stimmung wurde lockerer. Einige schlugen vor, gemeinsam etwas trinken zu gehen – wohl wissend, dass das nicht infrage kommt. Seinen Pass bekommt er so bald nicht zurück. Auslandsreisen sind ausgeschlossen. Irgendwann lachte er und sagte: „Auf so viele Leute ist mittlerweile ein Kopfgeld ausgesetzt. So viele stehen auf der Fahndungsliste!“ Darüber mussten dann alle lachen.
Jemand warf ein, dass auf mich immer noch kein Kopfgeld ausgesetzt sei. „Scheint, als würdest du nicht genug anstellen, um aufzufallen“, sagte er. Ich habe mitgelacht. Aber innerlich habe ich mich gefragt, in was für einer verdrehten Welt wir leben, in der es unter Freunden als Auszeichnung gilt, ein gesuchter Krimineller zu sein.
Nach einer Weile geriet das Gespräch ins Stocken. Ich glaube, wir alle haben die Distanz gespürt, die die Zeit und Ereignisse zwischen uns geschaffen haben. So vieles hat sich verändert – bei mir, bei den anderen, in der Welt. Aber bei ihm ist die Zeit stehen geblieben. Irgendwann gehen einem die Gesprächsthemen aus, weil das Ungleichgewicht zu deutlich wird.
Es ist ein seltsames, schönes Gefühl, ihn zurückzuhaben. Und doch wissen wir alle, dass er nicht wirklich frei ist. Ja, er ist draußen, aber seine Welt bleibt überwacht und begrenzt. Es gibt Dinge, die er nicht sagen darf. Dinge, die er nicht tun kann. Ein falscher Schritt, und er könnte wieder dort landen, wo er hergekommen ist.
Und dann sind da noch die anderen. Freunde, die noch immer in Haft sind. Manchmal frage ich mich, wie die Welt aussehen wird, wenn sie freikommen. Wird sie besser sein? Oder schlimmer, wenn alles so weitergeht wie bisher?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Heute haben wir einen von uns zurückbekommen. Und das muss etwas bedeuten.
Glacier Kwong schreibt diese Kolumne im Wechsel mit Joshua Wong. Die beiden jungen Aktivisten aus Hongkong kämpfen gegen den wachsenden Einfluss Chinas in ihrer Heimat. Da Wong derzeit inhaftiert ist, setzt Kwong diese Kolumne einstweilen allein fort.
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