Wer die Halle betritt, in der in dieser Woche die Digitalkonferenz re:publica in Berlin tagt, kommt in eine Welt, in der nichts zu spüren ist vom „Vibe Shift“, den der Historiker Niall Ferguson dem Westen attestierte. Ein Ende der „Woke“-Kultur, eine Rückkehr zum Nationalstaat, zu einer Politik der Stärke? Nicht hier in Berlin, in der Veranstaltungshalle.

Zwischen Messeständen von YouTube, Google, Bundesnetzagentur, ARD und ZDF wird eine Feel-Good-Atmosphäre geschaffen, die die „Generation XYZ“, so das diesjährige Konferenzmotto, durch die Vier-Tage-Woche trägt – mit Hängematten, einem Wunschbaum und einem Bällebad. Wobei das Bällebad für Erwachsene inzwischen auch als selbstironische Geste durchgeht.

Gefördert und finanziert wird die Konferenz von Stiftungen, mehreren Bundesministerien, Verbänden und Unternehmen. Die Plattform X des US-Milliardärs Elon Musk wollte ebenfalls auf der re:publica vertreten sein, erhielt aber eine Absage. „Faschisten geben wir keinen Raum“, sagte der Konferenzgründer Markus Beckedahl im RBB. Die Veranstaltung solle „Hoffnung geben“ auf eine „bessere digitale Welt“ und sich dem weltweiten Rechtsruck entgegenstellen. AfD-Vertreter finden sich dementsprechend nicht im Programm.

Gegründet wurde die re:publica 2007 als Konferenz von Bloggern und Internetaktivisten. Mit Vorträgen über „Mind-Reading AI“ oder die Rolle von Blockchain bei der Rettung der Regenwälder stehen abseitige, etwas nerdige aber überraschende Netzthemen weiter im Programm. Doch die re:publica und ihre Gründer Beckedahl und Johnny Haeusler haben einen politischen Gestaltungsanspruch. Auf der Konferenz wird das „Geschäftsmodell Fake News“, das „Geschäftsmodell Gesellschaftsspaltung“ und „Trumps Angriff auf Amerika“ beklagt; die üblichen Redner werben für „Regieren ohne Geldsorgen“ alias Schulden.

Dieser Anspruch zeigt sich auch bei der Auswahl der politischen Gäste. Mit Friedrich Merz (CDU) sprach am Montag der Bundeskanzler auf der Konferenz, allerdings auf einer Bühne, die der WDR im Rahmen der Veranstaltung bespielte. Am Dienstag folgte ihm dort Außenminister Johann Wadephul, der wie Merz auch Israels Vorgehen im Gaza-Streifen kritisierte. Mit Digitalminister Karsten Wildberger und Bildungsministerin Karin Prien, die sich mit Jugendlichen austauschte, waren zwei weitere CDU-Minister am Dienstag auf der Konferenz vertreten. Außerdem stellten sich Grünen-Politikerin Ricarda Lang und Linken-Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek den Fragen von Konferenzchef Haeusler.

Wildberger sprach in einer Rede auf der Hauptbühne vor Hunderten Zuhörern über das neue Digitalministerium als Start-up. „Der Mann, der uns jahrelang Faxe verkauft hat, will sie uns jetzt wieder wegnehmen“, so moderierte Beckedahl den ehemaligen CEO von MediaMarkt und Saturn an. Wildberger blieb dann bei Allgemeinplätzen wie dem, „dass Digitalisierung eines der entscheidenden Zukunftsthemen ist“.

Ricarda Lang sieht sich als „Humorbeauftragte“

Die Gespräche mit den Spitzenpolitikern sind auf 30 Minuten angelegt. Das kurzweilige Format kommt beim Publikum an. Und sowohl Lang als auch Reichinnek wissen, wie sie das urbane Milieu, dass sich dort versammelt hat, begeistern können. Mit Witzchen, Selbstironie, Ehrlichkeit. Politisch sind ohnehin fast alle auf einer Wellenlänge.

Lang, bis November noch Co-Parteivorsitzende, bezeichnet sich selbst als „Humorbeauftragte“ der Grünen. Der Eindruck, dass sie freier geworden sei, täusche nicht. Aber schon im Landtagswahlkampf im Sommer 2024 habe sie die politische Auseinandersetzung mit Humor geführt, sagte Lang und verwies auf ein angebliches Grillverbot, das die Thüringer CDU beklagt hatte. Lang reagierte darauf mit einem Foto bei Biertrinken, das viral ging.

„Die CDU ist immer sehr gut darin, Zwänge und Verbote zu bekämpfen, die noch niemand gefordert hat“, sagt Lang nun auf der re:publica. Die Pointe sitzt.

Lang schildert auch, wie sie die Bildung der neuen schwarz-roten Regierung wahrgenommen habe. „Da standen Friedrich Merz und Lars Klingbeil und haben große Worte in den Mund genommen. Ich hatte das Gefühl, diese Worte verlieren an Bedeutung“, sagte Lang. Sie gestand aber auch: „Da denkt man sich schon, scheiße, nicht dabei zu sein.“

Wie die Konferenzgründer beklagen Lang und später auch Reichinnek die Konzentration auf wenige Technologie-Unternehmen wie Google, Apple, Meta, Amazon und X. Lang sprach von einer Gruppe von „Tech-Oligarchen“. „Es geht darum, ökonomische Macht, mediale Macht und politische Macht zusammenzuführen, um eine neue Weltordnung zu schaffen, in der sie sich an keine Regeln mehr halten müssen.“

Dann skizziert Lang, woran sie und die Grünen in den kommenden Jahren arbeiten wollen – an einer linken Mehrheit bei der Bundestags- und der Europawahl in vier Jahren. „2029 wird Crunchtime für die Demokratie“, sagt Lang. Sie sei dafür, sich nicht auf eine Regierung der Parteien der Mitte mit der Union unter Friedrich Merz einzustellen. „Demokratische Mehrheiten brauchen auch einen starken progressiven Teil. Es ist die strategische Frage, wie man diese Alternative aufbaut.“

Vielleicht mit Heidi Reichinnek?

„Wir provozieren“, gesteht Reichinnek

Die Linken-Fraktionsvorsitzende sprach zwei Stunden nach Lang auf der Hauptbühne. Und sie wurde gefeiert. „Bei Friedrich Merz war weniger Begeisterung“, sagt Moderator Haeusler. Reichinnek wollte mit ihm über den Erfolg der Linkspartei auf sozialen Medien sprechen. Die 37-Jährige erhöhte ihre Reichweite auf TikTok im Bundestagswahlkampf binnen Wochen auf 600.000 Follower– nur Alice Weidel hat mit über 900.000 deutlich mehr.

„Wir provozieren“, gesteht sie, „aber immer auf Basis der Wahrheit.“ Es sei leichter Menschen zum Reagieren auf ein Video zu bewegen, wenn sie das Thema wütend mache. Manchmal ergebe sich auch ein Austausch unter Demokratinnen. „Das hatte ich mit der FDP, die älteren von Euch kennen die noch, die waren mal im Bundestag.“ Gejohle. Reichinnek spricht schnell, peitscht das Publikum immer wieder an.

Mit der „Operation Silberlocke“ habe die Linkspartei wieder mediale Aufmerksamkeit erhalten, sagt Reichinnek. Aber junge Wähler – sie zählt junge Frauen und junge „Queers“, also Lesben, Schwule, Trans- oder Intersexuelle, explizit auf – hätten die Partei stark gemacht. Haustürgespräche hätten gezeigt, dass die soziale Frage das bewegende Thema der Wähler sei. Ihre Brandrede im Bundestag, in der sie Merz nach der Abstimmung mit AfD und FDP im Januar angegriffen hatte, spielte laut Reichinnek hingegen nicht die entscheidende Rolle im Wahlkampf. „Dass die Rede, die ich gehalten habe, so viral ging, dafür vielen Dank“, sagt sie in Richtung des Publikums. „Das war ein Baustein von vielen.“

Inzwischen hat die Linkspartei mehr als 112.000 Mitglieder. Diese veränderten die Partei, sagte Reichinnek. Das sei auch gut, denn die Partei könne nicht mit den Rezepten von gestern die Probleme von morgen lösen. Da wäre eine Nachfrage des Moderators zur Kapitalismuskritik und den Sozialismusfantasien der Linkspartei angebracht gewesen. Sie blieb aus.

Reichinnek sei die beliebteste Politikerin Deutschlands, sagt Haeusler. Wieder Jubelrufe. Als Ziel für die Linkspartei gab Reichinnek die 20-Prozent-Marke aus. „Aber erstmal Berlin regieren“, sagte sie. In der Hauptstadt wird 2026 ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Es ist ein deutlicher Machtanspruch, den sie formuliert.

Und wie Lang schielt Reichinnek auch schon auf die Wahl 2029 und ein rot-rot-grünes Bündnis. Um SPD und Grünen nicht die Wähler streitig zu machen, will sie mit der Forderung nach Umverteilung und einer Vermögenssteuer frustrierte Wähler gewinnen. „Da habe ich Lust drauf“, sagt Reichinnek. „Niemand kriegt ‘ne Milliarde, weil er oder sie mal ein paar Überstunden kloppt.“ Wieder Applaus.

Da klatschen dann nur noch drei, vier Zuhörer für den Moderator

Kritik darf sich Reichinnek dann doch noch anhören – und zwar beim Thema Außenpolitik. Sie verteidigt die Ablehnung der Linkspartei von Waffenlieferungen an die Ukraine, auch wenn diese Ansicht im Publikum kaum auf Zustimmung trifft. Und sie muss auf Bitten Haeuslers erklären, ob die Linke ein Problem mit Antisemitismus habe. Auf dem Linken-Parteitag in Halle hatte eine knappe Mehrheit der Delegierten eine laschere Definition von Antisemitismus durchgesetzt.

„Natürlich sind wir gegen Antisemitismus“, sagte Reichinnek. „Die Existenz Israels steht nicht zur Debatte.“ Das Grundproblem aber sei, zu sehen, was in Palästina passiere. Wieder deutlicher Applaus. „In den man das in Teilen nicht zulässt, erweist man Israel und den Jüdinnen und Juden einen Bärendienst.“ Antisemitismus gebe es auch in der Mitte der Gesellschaft und noch mehr im rechtsextremen Bereich, fuhr Reichinnek fort. Haeusler intervenierte. Nicht nur die Partei, die politische Linke habe grundsätzlich ein Problem mit dem Thema Israel. Dafür erhielt auch er Applaus – von drei, vielleicht vier Zuhörern.

Aus Zeitgründen, wohl aber auch, um das heikle Thema zu umschiffen, ging er zur Fragerunde über. Ein Mann im Kapuzenpullover will wissen, wie man die Banker aus dem Cum-Ex-Skandal rankriegen könne. Reichinnek klatscht schon bei der Frage mit der Hand auf ihren Oberschenkel.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke