Wirklich neu ist nicht, was Bundeskanzler Merz über den Einsatz von Waffen aus Deutschland in der Ukraine gesagt hat. Die anderen Verbündeten hätten ihre Beschränkungen längst aufgehoben, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange, Deutschland habe hier nur nachgezogen. "Es ist gut, wenn jetzt die von Anfang an einzig sinnvolle militärische Regelung für alle gilt", so Lange im Interview mit ntv.de. "Aber sinnvoll ist die Ankündigung nur dann, wenn Deutschland auch Waffen und Munition liefert, mit denen man bei höheren Reichweiten Treffer erzielen kann."
ntv.de: Bundeskanzler Friedrich Merz hat am Montag gesagt, für von Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffen würden keine Beschränkungen bei der Reichweite mehr gelten. Sprich: Sie können gegen Ziele auf russischem Territorium eingesetzt werden. SPD-Chef Lars Klingbeil entgegnete, es gebe "keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat". Wer hat da recht?
Nico Lange: Beides ist richtig. Es gibt keine Reichweitenbeschränkungen mehr. Eine Veränderung ist das allerdings nicht.
Das müssen Sie erklären.
Schon vor einem Jahr, im Mai 2024, haben Deutschland und andere Unterstützer der Ukraine entschieden, dass die Reichweitenbeschränkung aufgehoben wird. Damals bezog sich das nur auf das russische Gebiet jenseits der ukrainischen Grenzregion Charkiw.
Die Bundesregierung teilte damals mit, gemeinsam mit den Verbündeten sei man der Überzeugung, dass die Ukraine "das völkerrechtlich verbriefte Recht" habe, sich gegen Angriffe aus Russland auf Charkiw zu wehren.
Das war eine späte Erkenntnis, denn völkerrechtlich hat die Ukraine ohnehin das Recht, sich auch mit Angriffen auf russisches Territorium zur Wehr zu setzen. Auch militärisch war das dringend notwendig, denn man muss auf die russische Seite der Grenze schießen können, wenn man von dort angegriffen wird. Die anderen Verbündeten der Ukraine haben die Beschränkung auf Charkiw später fallen lassen, ohne dass dies kommuniziert wurde. Dies geschah zum Beispiel als Reaktion auf den Einsatz von nordkoreanischen Soldaten: Die Amerikaner haben da Beschränkungen für die ballistischen Kurzstreckenraketen ATACMS aufgehoben. Dieser Position hat Deutschland sich nun offenbar angeglichen. Wirklich neu ist das nicht.
Merz sagte bei seinem Besuch in Finnland, er habe nur etwas beschrieben, "was schon seit Monaten der Fall ist, nämlich dass die Ukraine das Recht hat, die Waffen, die sie geliefert bekommt, auch jenseits der eigenen Landesgrenzen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen".
Wirkung hat diese Regelung nur, wenn Deutschland jetzt auch Waffen und Munition liefert, die höhere Reichweiten haben.
Deutschland hat noch keine Waffen geliefert, die da infrage kommen?
Von der ukrainischen Seite hört man: Es gibt derzeit gar keine Waffen und Munition aus Deutschland, für die das zutrifft. Die Ukrainer verfügen zwar über Raketenwerfer des Typs MARS II, die Raketen-Artillerie verschießen. Aber die Munition dafür kommt nur noch aus den USA. Das ist Munition, wie sie auch für den Mehrfach-Raketenwerfer HIMARS genutzt wird. Und bei amerikanischer Munition ist entscheidend, was die Amerikaner sagen. Die haben die Reichweitenbeschränkung aber längst aufgehoben.
Dann ist Merz' Äußerung faktisch belanglos?
Es ist gut, wenn jetzt die von Anfang an einzig sinnvolle militärische Regelung für alle gilt. Aber sinnvoll ist die Ankündigung nur dann, wenn Deutschland auch Waffen und Munition liefert, mit denen man bei höheren Reichweiten Treffer erzielen kann.
Das wäre der Marschflugkörper Taurus. Gehen Sie davon aus, dass die neue Bundesregierung den liefern wird?
Ich kann nicht beurteilen, welche Pläne die Bundesregierung hat. Ich kann aber beurteilen, dass es militärisch weiterhin sinnvoll ist, Taurus zu liefern. Gerade jetzt, nach den Luftangriffen auf Kiew, wird klar, welche Probleme die Ukraine mit der Luftverteidigung hat. Es ist illusorisch zu glauben, man könne alle Raketen, Marschflugkörper und Drohnen abwehren. Ein Instrument wie Taurus kann die Flugplätze bedrohen, auf denen die russischen Flugzeuge starten, die dann Raketen gegen die Ukraine abfeuern. Das wäre für die Luftverteidigung eine große Hilfe.
Falls Deutschland den Taurus liefert: Sollte die Bundesregierung die Ukraine verpflichten, bestimmte Ziele nicht anzugreifen, zum Beispiel Ziele in Moskau, was theoretisch möglich wäre?
Ich halte diese Debatte für an den Haaren herbeigezogen. Das ist eine Fantasiediskussion, die von Leuten geführt wird, die bewusst verzerren wollen, was die Ukraine mit dem Taurus machen würde. Die faktische Reichweite von Taurus ist ja auch dadurch bestimmt, dass Taurus sehr dicht am Boden in Konturen fliegt, also keine gerade Linie, und dadurch, dass man den Marschflugkörper von Flugzeugen starten muss, also deutlich hinter der Frontlinie. Wer über mögliche Angriffe der Ukraine mit Taurus auf Moskau spekuliert, will eine Angstdebatte befördern. Das ist Unsinn. Auch hier gilt das Völkerrecht. Warum sollen wir Regelungen treffen, die über das Völkerrecht hinausgehen?
Das Völkerrecht sagt …
Staaten dürfen einen angegriffenen Staat unterstützen, sie werden dadurch nicht zur Kriegspartei. Welches Waffensystem man an den angegriffenen Staat liefert, ist völlig egal. Der Einsatz von Waffen gegen militärische Ziele auf dem Territorium des Aggressors ist ebenfalls völkerrechtlich erlaubt. Das hat ja auch der Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht. Mehr Regelungen braucht man nicht.
Der SPD-Politiker Ralf Stegner hat gesagt, alles, was den Krieg ausweite, sei falsch. Linken-Fraktionschef Sören Pellmann sagte, die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen habe den Krieg nicht beendet. Das sind Positionen, die zunächst durchaus plausibel klingen.
Nicht alles, was im ersten Moment plausibel klingt, ist auch plausibel. Die Diskussion über die sogenannten schweren Waffen war für Deutschland doch blamabel genug. Wir haben ewig diskutiert, bevor wir 18 - achtzehn! - Kampfpanzer vom Typ Leopard II geliefert haben. Und dann sagt man: 'Wir haben so lange diskutiert, aber geholfen haben die Kampfpanzer nicht.' Das ist doch keine ernsthafte Debatte unter Erwachsenen! Natürlich reichen 18 Kampfpanzer nicht aus, schon gar nicht, wenn man ewig braucht, um sie zu liefern.
Die Argumentation, dass durch Waffen nichts erreicht worden sei, wird von meinen Bekannten und Freunden in Kiew widerlegt, die froh sind, dass ihr Land Waffen bekommen hat. Nur deshalb können sie frei in Kiew leben, nur deshalb konnten die Russen vor Kiew zurückgeschlagen werden. Nur deshalb konnte Cherson befreit werden, nur deshalb hat Putin seine militärischen Ziele nicht erreicht. Die Waffenlieferungen haben die Ukraine nicht nur in eine bessere Position gebracht, sie haben auch vielen Menschen ermöglicht, frei zu leben. Ich finde es sehr erstaunlich, dass nach drei Jahren Krieg noch immer solche Argumente auftauchen, wie die von Ihnen zitierten. Was den Krieg ausweitet, sind die Bombardierungen von Zivilisten durch russische Marschflugkörper und Drohnen.
Russland hat seine nächtlichen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine zuletzt stark intensiviert. Was ist der strategische Sinn dieses Bombenterrors?
Militärische Ziele kann man nicht erreichen, wenn man die Ukraine drei Tage hintereinander mit Drohnen und Raketen überzieht. Mit dem militärischen Geschehen an der Front hat das nichts zu tun. Das Signal an die Ukraine ist: Wir erheben weiter Anspruch auf die gesamte Ukraine. Und Putin will den europäischen Partnern der Ukraine, die sich vor Kurzem in Kiew getroffen haben, zeigen: Ihr seid schwach, ich bin stark. Ich bombardiere, egal, was ihr macht.
Russland hat seine Drohnenproduktion stark ausgeweitet. Kann man das als Indiz sehen, dass die Übermacht der Russen eben doch erdrückend ist?
Es gibt keine erdrückende Übermacht der Russen. Ich weiß, dass viele ihre Überlegungen immer damit beginnen, man könne gegen Russland nichts ausrichten, man könne nicht gegen Russland gewinnen. Aber das ist ein Irrtum, das haben die Ukrainer bewiesen. Im Übrigen deutet vieles darauf hin, dass die Ukrainer den Abnutzungskrieg bestehen können. Russland erobert mit viel Aufwand irgendwelche Straßenkreuzungen und ein paar Dörfer. Da sehe ich keinen Grund, eine angebliche russische Übermacht zu beschwören.
Russland hat bei bestimmten Waffensystemen den Übergang zur Massenproduktion geschafft. Die Ukraine macht viel, aber in Europa schaffen wir den Übergang zur Massenproduktion bisher nicht. Daraus erwächst eine Gefahr - zunächst einmal für die Ukraine, aber auch für uns, wenn Russland das Gefühl hat, es kann eine gewisse Überlegenheit erzeugen.
Mit Nico Lange sprach Hubertus Volmer
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