Die Russen überziehen die Ukraine mit Luftangriffen. Warum können sie das plötzlich? Oberst Reisner erklärt, welchen Denkfehlern die westlichen Ukraine-Unterstützer aufsitzen und welche Folgen das auf dem Schlachtfeld hat.
ntv.de: Herr Reisner, die Ukraine meldete heute 355 russische Drohnen-Angriffe aus den vergangenen 24 Stunden. Dazu neun Angriffe mit Marschflugkörpern. Auch das Wochenende war von massiven Luftschlägen geprägt. Was hat es zu bedeuten, dass die Russen hier den Taktschlag so deutlich erhöhen?
Markus Reisner: Zum einen führt das natürlich zu starken Schäden. Den Ukrainern gelingt es derzeit noch, relativ viele der angreifenden Drohnen abzuschießen. Aber mit Blick auf Marschflugkörper und Iskander-Raketen ist die Abschussrate zu gering, um empfindliche Schäden zu verhindern. Parallel dazu versucht auch die Ukraine, Ziele auf russischem Territorium anzugreifen. Zum Teil mit bis zu 150 Drohnen gleichzeitig. Die Russen etwa behaupten, in der letzten Woche seien über 1000 Drohnen nach Russland eingeflogen. Man sieht aber vor allem, dass die Angriffe der russischen Seite stark zunehmen. Anfang 2024 hat Russland etwa 300 Geran-2-Drohnen pro Monat produziert.
Die Geran 2 sind sehr groß - mehr als drei Meter lang und über zwei Meter breit. Ihr Vorgänger, die Shahed-136-Drohne, wurde zunächst vom Iran an Russland geliefert. Sind die Russen nun in der Lage, Drohnen dieser Qualität und Reichweite selbst in hoher Stückzahl herzustellen?
Diese Zahl von 300 Stück, für die sie Anfang 2024 noch einen Monat Zeit brauchten, produzieren die Russen mittlerweile in drei Tagen. Die Ukrainer nennen sie fliegende Mopeds, weil sie mit Motoren angetrieben werden, die einen sehr auffälligen Heulton hervorrufen. Der wird hörbar, wenn die Drohne herunterstürzt. Eine andere Weiterentwicklung sind Düsentriebwerke. Mit ihnen fliegt die Drohne wie ein Modellflugzeug. Sie erhöhen die Geschwindigkeit, aber verringern die Reichweite. Einige Modelle werden umgebaut, um gezielt nur als Köder zu dienen und die ukrainische Fliegerabwehr aus der Reserve zu locken. Bei den Angriffsdrohnen hat die Sprengladung zugenommen. Bis vor Kurzem führte eine Geran bis zu 50 Kilometer Sprengstoff mit sich. Mittlerweile haben sie bis zu 100 Kilogramm dabei, die Sprengleistung hat sich also verdoppelt.
Lassen sich die Produktionskapazitäten weiter steigern?
Damit rechne ich. Wenn die Russen ihre Produktionsrate auf bis zu 500 Stück pro Tag steigern, dann muss die Ukraine in der Zukunft ständig massive strategische Luftangriffe erwarten. Zudem sehen wir entlang der gesamten Frontlinie vom Norden bis zum südlichen Abschnitt laufend Angriffe der Russen. Aus meiner Sicht ist das die Kulmination der Frühjahrsoffensive. Die kommt früher als erwartet in ihre Endphase. Vor allem im Mittelabschnitt der Front spitzt sich die Situation auf operativer Ebene immer stärker zu.
Auf "operativer Ebene" heißt, an bestimmten Abschnitten der Front gibt es Entwicklungen, die Einfluss auch auf den Rest der Front haben? Weitreichende Entwicklungen?
Operativ bedeutet das Zusammenwirken großer russischer Verbände und der unterstützenden Teilstreitkräfte. Im Raum zwischen Pokrowsk und Torezk droht ein immer größerer Durchbruch. Möglicherweise entsteht hier ein Doppelkessel, einmal um Pokrowsk, der zweite um Torezk herum. Die vierte, improvisierte Verteidigungslinie wird zunehmend durchstoßen und es regt sich Kritik auf ukrainischer Seite. Der Kommandant des ersten Bataillons der 47. Mechanischen Brigade etwa hat in den sozialen Medien wütend darauf verwiesen, dass der ukrainische Generalstab seiner Meinung nach kein klares Lagebild hat von dem, was tatsächlich an der Front passiert. Die Folge seien sinnlose Befehle.
Pflichten Sie der Kritik bei?
Videos von der Front zeigen oft kleine Gruppen von Soldaten, die verzweifelt in kleinen Stützpunkten ausharren, unter dem Dauerfeuer russischer Gleitbomben, Artillerie und russischer Angriffsdrohnen. Sie weichen langsam zurück und sagen in ihren Videobotschaften, "Wir haben Verwundete. Wir wissen nicht, wohin. Wir können uns am Tage kaum bewegen. Es macht keinen Sinn, diese Stellung zu halten." Diese Kritik zieht sich wie ein roter Faden durch die sozialen Medien und sie wird auch von dem erwähnten Kommandanten geäußert. "Warum halten wir die ganze Zeit Gelände?", fragt der. "Warum versuchen wir nicht, dynamischer zu sein?" Das ist das eine.
Es gibt noch mehr Kritik?
Der zweite große Vorwurf ist die Frage der Mobilisierung. Stichwort 18- bis 25-Jährige, die bislang verschont blieben. Nun zeigen Videos immer wieder, wie Rekrutierungsbehörden versuchen, neue Soldaten von der Straße weg in die Autos zu zerren und an die Front zu bringen. Weil die Truppen dort so ausgedünnt sind, keine Reserven haben. Ein Bataillon von normalerweise 600 bis 700 Mann besteht oft nur aus 250 Soldaten. Viele davon bereits seit drei Jahren im Einsatz. Wenn keine Ablösung kommt und keine Verstärkung, dann brechen die irgendwann zusammen. Das sind die zwei Hauptkritikpunkte, und ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich teile beide sehr wohl.
Wir sprechen mit Blick auf das Kriegsgeschehen häufig über Symmetrie und Asymmetrie zwischen den Gegnern. Ist eine der Parteien auf einem Feld überlegen, dann ist das Verhältnis asymmetrisch. Wie ist das bei den Drohnen? Hat die Ukraine den russischen Fähigkeiten etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen?
Das bekannteste Waffensystem, mit dem sich die Ukraine gegen die Geran 2 wehren kann, ist der deutsche Gepard, der Flugabwehrpanzer. Der Gepard schießt diese Drohnen ab, er ist aber in seiner Reichweite begrenzt. Das nächstmögliche Mittel wäre Fliegerabwehr mittlerer und hoher Reichweite. Nur ist die erforderliche Munition sehr teuer und nicht in der ausreichenden Menge verfügbar. Dennoch haben wir in den vergangenen Monaten gesehen, wie vor allem die USA versuchen, von überall auf der Welt neue Patriot-Flugabwehr-Raketen heranzuschaffen. Damit die Ukraine laufend nachladen kann.
Aber dieses Problem, diesen Übersättigungs-Effekt, haben alle Abwehrsysteme. Den sehen wir auch in Israel, zum Beispiel. Wenn der Gegner einfach zu viele einfliegende Waffensysteme produziert, kommt die Abwehr an ihre Grenzen. Das große Dilemma der Ukraine ist zusätzlich, dass sie sich fortwährend entscheiden muss: Setzt sie die Flugabwehr in der Tiefe des Landes ein, zur Abwehr dieser verheerenden Luftangriffe auf die militärisch industrielle Infrastruktur? Oder nutzt sie sie an der Front, um Bombenangriffe gegen eigene Stellungen abzuwehren?
Es gibt nicht das Kampfmodell "Drohne gegen Drohne"?
Doch, das gibt es. Auch hier gibt es Entwicklungen von beiden Seiten auf Ebene der Gefechtstechnik und auf der taktischen Ebene. Man entwickelt Abfangdrohnen, die gegen die feindlichen Drohnen vorgehen können. Damit haben die Ukrainer in Kursk gearbeitet. Zudem setzt die Ukraine auch Hubschrauber oder alte Propellerflugzeuge ein, die Drohnen erkennen und ihnen folgen können, sodass Soldaten sie mit ganz normalen Maschinengewehren abschießen. Auch das ist ein Versuch, dieser Massivität der Drohnenangriffe Herr zu werden.
Gibt es auf dem Gefechtsfeld dieselbe Entwicklung? In der Abwehr der kleinen First-Person-View-Drohnen?
Ja, auch hier wird "Drohne gegen Drohne" als ein Ansatz gesehen, vor allem gegen die Glasfaser gesteuerten Drohnen, die ja unempfindlich sind gegen Störungen, weil sie über lange Drähte gesteuert werden. Es gibt aber die Chance, diese Drohnen mittels Radar sehr früh zu erkennen und gezielt mit Abfangdrohnen zu bekämpfen. Falls Sie sich erinnern: Letztes Jahr beim ukrainischen Vormarsch in Kursk hat man genau auf diese Weise den Russen die Drohnen vom Himmel geholt und damit waren diese drei Tage lang blind. Nur deshalb konnten die Ukrainer so rasch aufmarschieren. Es gibt letztlich eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten. Die Herausforderung besteht immer darin, dass die Ukraine nicht die Masse an diesen Systemen hat. Es sind einfach zu wenige, um dieser kompletten Sättigung der Front mit den russischen Angriffen begegnen zu können.
Nun hat die Ukraine eine Reihe westlicher Mächte hinter sich. Wie kann es sein, dass deren Kraft in Wirtschaft, in Know-how und Innovationen nicht dazu führt, dass die Ukraine quasi ertrinkt in Drohnen? Anders als ein Panzer sind Drohnen sehr schnell herzustellen. Wer steht auf der Bremse und wo?
Zwei Denkfehler ziehen sich aus meiner Sicht durch unsere Beurteilungen der letzten Monate. Erstens: Russland ist nicht allein. Das ist ganz entscheidend. Russland kämpft mit Verbündeten an seiner Seite. Nehmen wir China, und als konkretes Beispiel die Drahtwickelmaschinen …
Also der Mechanismus, mit dem die kleinen Drohnen während des Fluges permanent den feinen Glasfaserdraht abwickeln, der sie mit dem Drohnenpiloten in kilometerweiter Entfernung verbindet?
Genau diese Drahtwickelmaschinen sind für die russische Seite sehr wichtig. Sie müssen sehr gut funktionieren, diesen Draht beständig abwickeln, damit die Drohne sich nach vorn bewegen kann. Die Russen beziehen diese kleinen Maschinen aus China, und zwar in einer Stückzahl, die es ihnen erlaubt, ihre eigene Produktionsrate weiter zu erhöhen. Ebenso bekommen sie von den Chinesen verschiedene elektronische Bauteile. Die Russen haben fähige Partner, das ist das eine.
Und das andere?
Der zweite Denkfehler: Europa hat sehr wohl die technologische Innovationskraft, die Sie ansprechen. Aber in der Produktion sehen wir nicht die Quantitäten, die notwendig wären, um der Ukraine das zu geben, was sie brauchen würde. Damit sie den Russen auch mit der erforderlichen Masse entgegentreten könnte. Wir sehen das ja auch bei den ukrainischen Brigaden.
In welcher Form?
Viele dieser Brigaden sind zum Teil von einzelnen Nato-Staaten ausgestattet. Die haben dann zwar ein für die Brigade gutes System an Waffen, Munition, Ausrüstung, Kommunikation. Aber die Brigade kann oft nicht mit der Nachbar-Brigade kommunizieren, weil die von einer anderen Nation ausgestattet wurde. Sie nutzt andere Systeme. Ja, und in beiden Fällen ist es oft dann zu wenig, um diesen Nachschub aufrechtzuerhalten.
Nehmen Sie zum Beispiel die 47. Brigade, aus der auch die eben erwähnte Kritik kam. Die war bis jetzt an allen Brennpunkten der Front eingesetzt, von der Sommeroffensive 2023 bis zum Kessel bei Awdejewka und auch im Kursker Raum. Und hier sehen wir die Bremse: Wenn die Panzer zerstört sind, kommt kaum Nachschub. Aus den USA wurden 31 M1 Abrams geliefert. Australien sollte auch einige liefern, aber es braucht einen viel größeren Umfang von Systemen, um hier wirklich entgegenhalten zu können. Russland produziert durch Neufertigung und Instandsetzung 1500 Panzer pro Jahr. Diese müssen sie alle niederkämpfen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
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