Kurz bevor die Vertreter Russlands und der Ukraine am vergangenen Freitag in Istanbul zum ersten Mal seit drei Jahren wieder über einen Waffenstillstand redeten, beugten sich die Finanzminister der EU über eine Studie, die vielleicht für den Verlauf der weiteren Friedensverhandlungen genauso wichtig sein könnte wie die Einschätzung des Frontverlaufs im Donbass.
Es geht in dem Dokument um die Frage: Wie lange kann Wladimir Putin noch wirtschaftlich durchhalten? Die kurze Antwort: noch eine ganze Weile. Aber der innere Druck auf die Volkswirtschaft wächst mit jedem Monat dramatisch weiter an. Ihr Zustand sei auf jeden Fall sehr viel schlechter als viele im Westen annehmen, heißt es in der Studie der schwedischen Denkfabrik SITE, die von der EU extra bestellt worden war.
Offizielle Zahlen aus Moskau nicht vertrauenswürdig
Viele kommen zu falschen Schlüssen über die wirtschaftliche Stabilität des Regimes, weil sie die offiziellen Zahlen aus Moskau für bare Münze nehmen, obwohl ihre inneren Widersprüche auf eine bewusste Manipulation der Daten schließen lassen. Bestes Beispiel dafür, so argumentieren die SITE-Experten, sind die Angaben über die Inflation im Land. Offiziell liegt sie bei rund zehn Prozent. Warum aber erhebt die russische Zentralbank dann einen Leitzins von 21 Prozent? Das macht ökonomisch keinerlei Sinn. Gibt die Regierung aber die Teuerung bewusst zu niedrig an, dann fällt das reale Wachstum in Russland ebenfalls deutlich geringer aus, als es die offizielle Statistik behauptet.

Verhandlungen in Istanbul Gescheiterte Friedensverhandlungen nützen vor allem einem: Putin
Offenbar gibt Russland sehr viel mehr für Rüstung aus, als der Haushalt ausweist. Viele Zahlungen laufen über Bankkredite direkt an die Rüstungsunternehmen und tauchen in der Statistik nicht auf. Wohin man auch blickt: Der zivile Sektor der russischen Wirtschaft kommt immer stärker unter die Räder. Die Umstellung auf eine vollständige Kriegswirtschaft leert die Kassen und verdrängt Privatfirmen, die nicht für die Front produzieren. Auch der einzige Devisenbringer Putins, die Öl- und Gasindustrie, leidet. Die Sanktionen des Westens sorgen dafür, dass die Kosten des Exports steigen und die Einnahmen gleichzeitig unter Druck geraten. Die Schere öffnet sich – wenn auch langsam.
Putins Russland geht das Geld aus
Macht der Westen jetzt Ernst mit weiteren Sanktionen, die sich auf den Rohstoff- und den Finanzsektor konzentrieren, gerät die russische Wirtschaft in eine ernsthafte Notlage. Sie ist mittlerweile anfälliger für äußeren Druck als noch im letzten Jahr. Die liquiden Reserven des russischen nationalen Stabilisierungsfonds sind auf weniger als ein Viertel ihres Werts vor 2022 zusammengeschmolzen. Langsam, aber sicher geht Putin das Geld aus, um noch große Projekte zu stemmen. Es reicht gerade noch, um den Krieg auf dem jetzigen Niveau zu finanzieren.
Das Druckpotenzial auf Russland wächst. Aber noch fehlt die Bereitschaft der EU und vor allem der USA, es auch gegen Putin einzusetzen. Dabei fällt auch das entscheidende Argument weg, dass von den Amerikanern immer wieder zu hören war: Man dürfe Russland nicht völlig von seinen Einnahmen abschneiden, weil sonst der globale Erdöl- und Erdgasmarkt in eine gefährliche Unwucht geraten könnte. Angesichts niedriger Preise und tendenzieller Überproduktion wäre jetzt der ideale Zeitpunkt loszuschlagen gegen Putin. Es kommt nur auf den politischen Willen an.
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