Inhalt des Artikels:
- 125.000 Handwerksbetrieben droht Schließung
- Konkurrenz will wegen des Fachkräftemangels nur Mitarbeitende übernehmen
- Anreize für Anstellung im Handwerk laut Handwerkskammern deutlich größer
- Langer Suchprozess geht oft mit persönlichen Abstrichen einher, z.B. Rente mit 73
- 25 bis 50 Prozent der Betriebe in Thüringen von Schließung bedroht
- Der letzte große Stein im Weg: Bürokratie und teure Digitalisierung
Von vier auf 100 Aktenordner pro Jahr. So beschreibt Hans-Jürgen Nitzsche die Entwicklung der Bürokratie für Handwerksbetriebe in den vergangenen drei Jahrzehnten. Es ist einer der Gründe, warum er viele Jahre nach einem Nachfolger für seinen Garten- und Landschaftsbau im Wartburgkreis suchen musste. Nitzsche fand erst mit 73 jemanden – während immer mehr Betriebe teils trotz großer Mühen scheitern.
125.000 Handwerksbetrieben droht Schließung
"Deutschlandweit ist knapp jeder vierte Betriebsinhaber über 60 Jahre alt und steht kurz vor dem Ruhestand", bestätigt der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Anders ausgedrückt: Für ungefähr 125.000 Betriebe muss in den kommenden fünf Jahren ein stabiler Nachfolger gefunden werde – wenn verhindert werden soll, dass weitere Firmen schließen.
So ist es etwa Pumpen-Barth aus Torgau in Sachsen ergangen. Knapp zehn Jahre hat Armin Barth nach jemanden gesucht, der den Vertrieb, Einbau und Service für Wasser- und Abwasserpumpen oder Anlagen übernimmt, erzählt sein Sohn Eric Barth. Der Vater und Diplom-Ingenieur habe Mitarbeiter – Meister oder Handwerker – gefragt, niemand wollte.
Pumpen-Barth: Zehn Jahre vergebliche Nachfolgesuche in Sachsen
Armin Barth bot den Betrieb auch Mitbewerbern und Partnern an, doch die haben sich nur die "Rosinen rausgepickt", sagt Eric Barth. Immerhin konnten so alle Mitarbeiter eine neue Anstellung finden – was angesichts des Fachkräftemangels fast selbstverständlich scheint. Auch Eric Barth selbst habe länger überlegt und mit seinem Vater über die Nachfolge diskutiert, doch er hatte sich für einen anderen Weg entschieden und war bereits Wirtschaftsinformatiker.
Wunsch nach Unterstützung durch Handwerkskammern – Nachfolger-Netzwerk
Barth kritisiert, die Handwerkskammer gebe nur grobe Tipps – jeder müsse sich seinen eigenen Weg suchen, obwohl eine Nachfolge meist nur einmal im Unternehmerleben anstehe. "Es fehlt ein richtiges Netzwerk zur Nachfolgersuche." So musste laut dem 42-Jährigen leider ein Unternehmen, das bereits über 100 Jahre Tradition hatte und mit der Wende neu gegründet worden war, geschlossen werden.
Handwerkskammern warnen: Mehr Meister, weniger Gründer
"Durch sehr gute Arbeitsmarktbedingungen für angestellte Gesellen und Meister – auch in der Industrie – sinkt der Anreiz, ein eigenes Unternehmen zu gründen oder eine Nachfolge anzutreten", erklärt der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer (HWK) Dresden, Dr. Andreas Brzezinski. Die Zahl der Meisterabschlüsse steige in Sachsen stetig. Nur: "Der Wille und das Interesse, handwerkliche Traditionen fortzusetzen und Wissen weiterzugeben, macht noch längst keinen selbstständigen Unternehmer."
Zusätzlich führten Brzezinski zufolge politische Entscheidungen wie die Rücknahme der Meisterbonus-Erhöhung, sinkende Förderung der überbetrieblichen Berufsausbildung oder Planung eines gesetzlichen Bildungsurlaubs "nicht zu mutigen Gründern".
"Oft hören wir von Jungmeistern in der Ausbildung, dass sie in diesem herausfordernden Umfeld nicht bereit sind, sich selbständig zu machen", schreibt die Handwerkskammer Magdeburg aus Sachsen-Anhalt. Das seien vor allem die überbordende Bürokratie, die durch Dokumentationspflichten, Bearbeitungszeiten und schwer zu durchschauende Regelungen gerade die kleinen Unternehmen überproportional belasteten.
Nachfolge im Handwerk gefunden, aber erst mit 73 in Rente
"Es ist schwer einen kleinen Betrieb zu führen", gesteht Hans-Jürgen Nitzsche ein. Dafür müsse nicht nur das Handwerk beherrscht, sondern sich auch die Fähigkeiten zur Führung des Unternehmens und der Mitarbeiter angeeignet werden. Der studierte Garten- und Landschaftsbauer hat ebenfalls viele Jahre suchen müssen und nach vier potenziellen Kandidaten schließlich Nachfolger aus dem Handwerk gefunden.
Annelie Herold und Torsten Mittelsdorf sind dafür aus Franken in die Heimat nach Thüringen zurückgekehrt. Bis zur Übernahme des Betriebes im Wartburgkreis waren sie immer angestellt. "Da kommt immer das gleiche Geld jeden Monat rein", sagt Nitzsche. Dagegen unterliege man als Selbstständiger stetig Schwankungen.
So habe Nitzsche 1993 mit drei Mitarbeitern angefangen. "Anfangs war es relativ gut – damals waren es rundherum nur so fünf Betriebe." Das Unternehmen wuchs auf zehn Angestellte. Dann wurde es ab 1997 schwieriger. "Da gab es dann schon 80 Betriebe. In diesem Bereich war viel ausgebildet worden war, weil man glaubte, das zu brauchen." Später sorgte auch die Finanzkrise für schwerere Zeiten – doch schwand so auch wieder ein Teil der Konkurrenz.
"Richtig erholt hat sich die Firma erst ab 2015 wieder und mit dem großen Auftrag für die Landesgartenschau", sagt Hans-Jürgen Nitzsche. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs zwischenzeitlich auf 20. Eigentlich wollte er mit 68 und im Jahr 2018 in Rente gehen. "Da waren alle Kredite getilgt." Doch erst 2022 – nach zwei Jahren Einarbeitung – waren die Nachfolger bereit, die Firma zu übernehmen.
Einen Betrieb zu übernehmen, ist schwer
"Man braucht finanzielle Sicherheiten", sagt Annelie Herold. Zum einen sei es ein richtiger Firmenkauf gewesen. Zum anderen gehen die beiden Neu-Unternehmer bei jedem Auftrag in finanzielle Vorleistung. "Wir sind abhängig davon, dass wir bezahlt werden – voll bezahlt werden." Die erzielten Einnahmen müssen direkt reinvestiert werden – für weitere Aufträge oder notwendige Anschaffungen.
Die Banken haben gesagt: ‚Übersteht die ersten fünf Jahre, bis ihr überhaupt für einen Kredit in Frage kommt.'
Aufgrund diverser Gründe gelten Herold und Mitteldorf trotz Firmenkauf rechtlich als Neugründer. "Da haben die Banken gesagt: ‚Übersteht die ersten fünf Jahre, bis ihr überhaupt für einen Kredit in Frage kommt.‘", berichtet Herold. Es sei alles sehr herausfordernd – und einiges davon auch unerwartet gewesen.

So habe etwa allein die Übernahme des Unternehmens über ein halbes Jahr in Anspruch genommen. "Bis die Steuernummer da war, der Handelsregistereintrag erfolgte und wir selbst Rechnungen schreiben durften (…) das hat sehr lange gedauert", erzählen Herold und Mittelsdorf.
Insgesamt stehe auch so viel Arbeit an, dass sie und ihr Lebensgefährte sich nur fünf Tage Urlaub im Jahr gönnen – über Weihnachten. "Wir haben Aufträge ohne Ende, da will ich mich gar nicht beschweren", sagt Herold. Doch ob Sie diesen Schritt noch einmal gehen würde, da ist sie sich unsicher. "Nachfolger finden ist schön, Nachfolger werden ist sehr schwer."
Wenn in Thüringen Firmen "leise" schließen
In Thüringen besteht sogar die Gefahr, dass "bei 25 bis 50 Prozent der Betriebe kein Nachfolger gefunden werden kann", schreibt die Handwerkskammer Erfurt. Viele seien über 55 Jahre und älter. In einzelnen Gewerken liege der Anteil der über 60-jährigen Betriebsinhaber bei mehr als 60 Prozent: Feinwerkmechaniker, Informationstechniker, Gerüstbauer oder Klempner.
Die Folgen: Viele Betriebsinhaber verkleinern ihre Firma schon vor dem Ruhestand, investieren oder bilden nicht mehr aus. So schließen etliche Betriebe eher "leise", so die HWK Erfurt. Mit Folgen für die regionale Versorgung und es sinkt die Wirtschaftskraft.
Bundestagsabgeordnete Seitz: Tragfähige Modelle für Betriebsübernahme

Aus Sicht der CDU-Bundestagsabgeordneten Nora Seitz müsse bei potenziellen Nachfolgern ein Verantwortungsbewusstsein geschärft werden, was ohne das Unternehmen fehlen würde. Die 41-Jährige, die mit ihrer Mutter in Chemnitz eine Fleischerei betreibt, ist aktuell die einzige Handwerksmeisterin im Parlament. "Parallel muss der Wert des Handwerks in der breiten Gesellschaft stärker etabliert werden."
Schnelle Lösungen gebe es Seitz zufolge aktuell für eine gut strukturierte Nachfolge im Handwerk nicht: "Neben Gründerschutzzonen für Start-ups braucht es meiner Ansicht nach auch tragfähige Modelle für die Übernahme eines Betriebes. Dabei spielt Vernetzung eine wichtige Rolle, sodass Betriebe voneinander lernen können, wie man eine gute Übergabe gestalten kann."
Wenn Papierkram den Betrieb lähmt: 100 Ordner in nur einem Jahr
Neben steigenden Kosten ist für die Handwerker in Thüringen ebenfalls die stetig wachsende Bürokratie ein massives Problem: "Der administrative Aufwand für Betriebe ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen", schreibt die HWK. Dokumentations- und Nachweispflichten binden immer mehr Ressourcen. "Rund ein Drittel der Arbeitskraft eines Unternehmers geht zu Lasten der Bürokratie und verringert das Betriebsergebnis."
Rund ein Drittel der Arbeitskraft eines Unternehmers geht zu Lasten der Bürokratie und verringert das Betriebsergebnis.
Das Problem ist bei Hans-Jürgen Nitzsche greifbar geworden – durch 100 DIN-A4-Ordner, die sich zuletzt binnen eines Jahres mit Unterlagen füllten. Ein Grund dafür: Bei einer öffentlichen Ausschreibung musste Nitzsche bis zu 100 Seiten ausfüllen – das eigentliche Angebot "umfasste dagegen nur vier Seiten".
Digitalisierung: Eine Investition, die nicht jeder stemmen kann
Die Lösung lautet Digitalisierung: Ohne ein automatisiertes Ausfüllen der Formalien am PC wäre das nicht zu stemmen gewesen, so Nitzsche. Bei vielen Betrieben in Thüringen sei die Investitionskraft laut HWK Erfurt allerdings begrenzt, was solche Umstellungen erschwere.
Nitzsche hat das Geld investiert und davon profitieren nun auch seine Nachfolger. Dennoch gehen Herold und Mittelsdorf eigene Wege mit dem Unternehmen. Sie hätten inzwischen weniger Gartenbau, sondern mehr Landschaftspflege. Das sorge für längerfristige Aufträge und "hat auch seine Vorteile", sagt Nitzsche.
Der MDR widmet sich ab Montag, dem 15. September, in Radio, TV und in den sozialen Medien in einer Themenwoche dem Handwerk: Wie steht es um die Branche hier in der Region, wie ist es um die Nachfolge bestellt, und was wünschen sich die Handwerker und Handwerkerinnen von der Politik? Auch MDRfragt wollte wissen, ob das Handwerk noch immer goldenen Boden hat oder auf wackligem Fundament steht. Die Ergebnisse erfahren Sie am Montag bei MDR AKTUELL FERNSEHEN und auf MDR.de.
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