Bei den gesetzlichen Krankenkassen klafft schon jetzt ein Milliardenloch - und die Ausgaben steigen immer weiter. Ökonom Nicolas Ziebarth bescheinigt dem deutschen Gesundheitssystem Ineffizienz: hohe Kosten, mittelmäßige Leistungen. Diese Diagnose beinhaltet allerdings auch eine Chance: Mit Reformen könnten gleichzeitig die Ausgaben sinken und die Qualität steigen.

ntv.de: Wie schlimm steht es finanziell um die gesetzlichen Krankenkassen?

Nicolas Ziebarth: Klar ist, dass wir strukturell mit den Einnahmen die Ausgaben der Kassen derzeit nicht decken können. Die Krankenkassen können in diesem Fall ihre Zusatzbeiträge erhöhen. Die Zeche zahlen dann Arbeitgeber und gesetzlich Versicherte, die durch höhere Beiträge weniger verfügbares Einkommen haben bei gleicher Arbeit beziehungsweise höhere Lohnkosten aus Sicht der Arbeitgeber. Die Welt bricht da nicht gleich zusammen, aber im Zusammenspiel mit der Renten- und Pflegeversicherung, die ebenfalls mit ihren Einnahmen nicht auskommen derzeit, ist diese immer weiter steigende Belastung eine explosive Mischung.

Wie groß ist denn das Finanzloch?

Nachdem der Zusatzbeitrag 2025 im Durchschnitt bereits um 0,8 Prozent angehoben wurde und viele gesetzliche Krankenkassen den Zusatzbeitrag sogar noch stärker angehoben haben, wird dennoch ein Defizit von 5,5 Milliarden in diesem Jahr erwartet. Kurzfristig müssten die Zusatzbeiträge vieler Kassen also noch einmal um etwa einen halben Prozentpunkt angehoben werden, um die Ausgaben zu decken, wenn die Regierung sonst nichts tut - also etwa Steuergeld zuschießt oder versicherungsfremde Leistungen kompensiert, die den Krankenkassen aufgebürdet wurden. Die Absicht der Politik ist offensichtlich, dieses Finanzloch kurzfristig mit Steuergeld zu stopfen. Damit wäre der Anstieg der Beiträge in diesem Jahr verhindert. Aber die Strukturprobleme bleiben ungelöst, die Kosten steigen weiter und wir werden in den Folgejahren trotzdem Anstiege sehen, und zwar erhebliche. Deshalb muss auf jeden Fall etwas passieren und zwar schnell, im nächsten, spätestens übernächsten Jahr. 2028 steht ja schon wieder der nächste Bundestagswahlkampf an.

Nach aktuellem Stand soll eine Kommission bis 2027 Reformvorschläge vorlegen. Ist das zu spät?

Aus meiner Sicht haben wir nicht so viel Zeit. Wir müssen jetzt neben kurzfristigen Sofortmaßnahmen grundlegende Strukturreformen angehen. Dazu gehört beispielsweise die hausarztzentrierte Versorgung. Die steht ja auch im Koalitionsvertrag.

Ein erster Schritt ist also schon gemacht. Warum legt die Bundesregierung nicht gleich mit der Umsetzung los?

Technisch und institutionell ist das nicht so einfach. Wie genau soll das funktionieren? Darf ich nur noch mit einer Überweisung vom Hausarzt zum Facharzt? Hat jeder Versicherte einen festen Hausarzt? Gibt es überhaupt genug Hausärzte in allen Regionen? Deswegen hat man eine Kommission eingesetzt, die in zwei Jahren Ergebnisse vorlegen soll. Man kann sich vorstellen, dass dann die Koalitionspartner erstmal streiten werden, wie und was davon umgesetzt werden soll. Und dann sind wir schon fast wieder mitten im Wahlkampf. Das ist eine gefährliche Strategie.

Die Gesellschaft wird älter. Gleichzeitig steigen unsere Ansprüche an die medizinische Versorgung. Neue technische Entwicklungen und Medikamente sind teuer. Müssen wir uns nicht damit abfinden, dass wir mehr Geld für die Gesundheitsversorgung ausgeben müssen als früher?

Zunächst muss man festhalten, dass wir in Deutschland ein sehr teures Gesundheitssystem haben, das nur mittelmäßige Ergebnisse produziert. Im internationalen Vergleich kommen wir bei den Kosten nach den USA - wenn auch mit großem Abstand - auf den zweiten Platz. Dafür bekommen wir aber in allen Bereichen bestenfalls eine mittelmäßige Versorgung. Besonders schlecht ist in Deutschland die Koordination der Patienten im Gesundheitssystem. Das führt erwiesenermaßen zu Ineffizienzen, Doppeluntersuchungen, falschen Behandlungen sowie zu Unter-, Über- und Fehlversorgung. Das heißt, wir können die Ausgaben reduzieren und gleichzeitig das System im Prinzip besser machen. Das hört sich nach einer Wunschvorstellung an, ist aber faktisch so. Im langfristigen Trend, da haben Sie recht, gehen die Ausgaben infolge des demografischen Wandels nach oben. Das ist in allen entwickelten Ländern so. Da werden auch wir nicht dran vorbeikommen, wenn wir ein gewisses Versorgungsniveau halten wollen. Aber das Niveau, auf dem sich dieser Anstieg abspielt, können wir beeinflussen - und zwar ohne die Qualität der Versorgung zu verschlechtern.

Über was für ein Einsparpotenzial reden wir? Können die Krankenkassenbeiträge spürbar sinken?

Es gibt wirklich entwickelte Länder, deren Gesundheitssysteme in Vergleichen besser abschneiden als unseres, die ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts weniger für Gesundheit ausgeben. Das zeigt das Potenzial. Trotzdem geht es langfristig allerdings weniger darum, die Ausgaben wirklich zu senken, sondern darum, dass sie langsamer steigen. Zuletzt sind die Ausgaben um sechs Prozent im Jahr gestiegen, unsere Wirtschaftsleistung wächst aber weniger als ein Prozent, wenn überhaupt. Das heißt, wir müssen immer mehr von unserem erwirtschafteten Wohlstand für die Gesundheit ausgeben. Ziel muss sein, diesen Ausgabenpfad langfristig abzuflachen, sodass die Belastung nicht immer weiter ansteigt.

Was heißt das für die Beitragsbelastung?

Wir schauen bei der Beitragsbelastung immer auf den Durchschnitt. Aber es gibt ja fast 100 gesetzliche Krankenkassen, die miteinander konkurrieren und bei denen sich die Höhe der Zusatzbeiträge tatsächlich deutlich unterscheidet. Ziel der Strukturreformen sollte sein, dass wir in zehn Jahren immer noch Krankenkassen finden, deren Beitrag nicht viel höher ist als jetzt. Im Übrigen sollten auch heute schon Versicherte prüfen, ob sie durch einen Wechsel zu einer günstigeren Kasse Geld sparen können; bei Zusatzbeitragserhöhungen gibt es ein Sonderkündigungsrecht. So gibt es zwischen den Kassen Unterschiede von gut zwei Beitragspunkten, das sind bei einem Durchschnittsverdiener rund 900 Euro im Jahr, zumal die Leistungen gesetzlich sehr standardisiert und ähnlich sind.

Wir haben bisher über die Kosten gesprochen. Wie sieht es mit den Einnahmen aus? Wäre es nicht sinnvoll, die Basis der Einnahmen zu verbreitern, indem auch Menschen mit höheren Einkommen, Beamte einzahlen und auch andere Einkommensarten herangezogen werden?

Ich bin dagegen. Der Hauptgrund ist, dass solche Bürgerversicherungen oder die Einbeziehung von Kapitaleinkünften nicht hilft, die Strukturprobleme zu lösen. Dadurch wird die Versorgungsqualität in Deutschland nicht besser. Wir haben - das zeigt der Vergleich mit anderen Ländern - einfach ein Ausgaben- und kein Einnahmenproblem. Ich bin sehr dafür, die unteren Einkommensgruppen bei den Sozialversicherungen zu entlasten. Für Geringverdiener sind die Sozialbeiträge ja eine viel größere Belastung als die Steuern. Man könnte zum Beispiel kleinere Einkommen, sagen wir bis 25.000 Euro, von den Sozialversicherungsbeiträgen befreien oder diese stark reduzieren. Damit würde man auch den Arbeitsanreiz für viele Menschen im Niedriglohnbereich stark erhöhen.

Aber …?

Das ist sehr, sehr teuer. Dafür müssten dann höhere Einkommen zusätzlich stark belastet werden, beispielsweise indem man die Beitragsbemessungsgrenze abschafft oder stark anhebt. Das beträfe grob gesagt alle, die ab 66.000 Euro verdienen, die gehobene Mittelschicht also. Die zahlen im Moment allerdings schon den Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer. Das ist eine steuerpolitische Debatte, die man sicherlich führen kann. Für die Reform der Sozialversicherungen hat das aus meiner Sicht aber keine Priorität.

Mit Nicolas Ziebarth sprach Max Borowski

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