Spätestens beim inzwischen 17. Sanktionspaket der EU gegen Russland dürften die meisten die Hoffnung auf eine starke Wirkung verloren haben. Topökonom Gabriel Felbermayr erklärt im Interview mit ntv.de, warum die neuen Verschärfungen zwar eher symbolischer Natur sind, Russland aber trotzdem schaden. Vor den echten "Daumenschrauben", die den Aggressor richtig hart treffen würden, warnt er - aus mehreren Gründen. US-Präsident Donald Trump sitzt in diesem Fall nicht am längeren Hebel.

ntv.de: Die EU hat gerade ihre Sanktionen gegen Russlands Öl-Schattenflotte ausgeweitet und weitere russische Unternehmen auf die Liste gesetzt. Klingt nach altem Wein in neuen Schläuchen - was bringen die jüngsten Maßnahmen? Putin lässt sich so offensichtlich nicht vom Ukraine-Krieg abbringen.

Gabriel Felbermayr: Die bisherige Sanktionsgeschichte spricht eine klare Sprache. Die Sanktionen waren nicht in dem Sinne erfolgreich, dass sie einen Politikwechsel im Kreml verursachen konnten. Wenn man jetzt eine Schippe drauflegt, ändert das nicht die fundamentale Kosten-Nutzen-Analyse des Kreml zwischen Krieg oder Frieden. Das ist leider so. Aber jede Verschärfung macht es dem Kremlregime ein bisschen schwerer, ein bisschen teurer, gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Russland wird noch stärker isoliert und in die Hände von Nordkorea und Iran getrieben. Das hat durchaus Konsequenzen für den Wohlstand in Russland, auch für die Finanzierung des Krieges. Da können wir uns einigermaßen sicher sein, denn der Kreml sagt bei jeder Gelegenheit im Kontext möglicher Friedensverhandlungen, die Sanktionen müssen weg.

Wie groß ist denn der Effekt der bisherigen Sanktionen?

Die Sanktionen der EU haben den europäischen Handel mit Russland massiv reduziert, auch wenn es für viele Produkte nach wie vor keine Sanktion gibt, zum Beispiel pharmazeutische. Aber wir wissen aus Studien, dass Russland es geschafft hat, die bestehenden Sanktionen sehr geschickt zu umgehen. Während der Westen Handelsbarrieren aufbaute, hat Russland Barrieren zu Iran, Nordkorea, China, Indien gezielt abgebaut. Russland hat nicht nur einen Teil der entgangenen Exporte und Importe durch seine Ausfuhren in andere Länder und Einfuhren aus anderen Ländern ausgeglichen, sondern aktiv neue Handelspotenziale erschlossen.

Welche neuen Handelsbeziehungen ist Russland eingegangen?

Im Bereich der Finanzmärkte wurden nun mit anderen Partnern Kooperationen ausgebaut, etwa zwischen Zentralbanken, bei Versicherungsdienstleistungen oder Zahlungssystemen. Russlands Ölhandel mit Indien beispielsweise findet mittlerweile auch in chinesischer Währung statt. Außerdem wurden im Handel mit anderen Ländern Produktstandards harmonisiert oder abgesenkt, zum Beispiel darf nun Militärtechnologie aus Nordkorea importiert werden. Der Westen hat nicht vorhergesehen, dass andere Länder von den Sanktionen nicht nur passiv, sondern aktiv profitieren. Es war klar, dass russisches Erdöl nach Indien oder anderswohin fließt, wenn der Westen weniger kauft. Aber es fließt mehr nach Indien als erwartet.

Treffen die Sanktionen die russische Wirtschaft dann unterm Strich überhaupt?

Ja. Wenn Russland nicht getroffen wäre oder gar davon profitieren würde, hätte es diese Handelsbeziehungen ja schon früher ausbauen können. Warum hat Russland vor den westlichen Sanktionen fast keinen Handel mit Indien betrieben? Weil im Handel mit Deutschland mehr Profit drin ist, die Kosten und Risiken kleiner sind. Durch Umgehungsgeschäfte konnte Russland zwar den Schaden absenken, aber er ist da. Auch das 17. und 18. Sanktionspaket verschärfen die Kosten für Russland. Wenn am Ende russisches Öl über Pipelines nach China fließen würde, würden Sanktionen gegen die Schattenflotte wenig bringen. Aber die hohen Kosten für so ein neues Pipeline-System hat Russland bisher gescheut. Das zeigt, dass es effizienter ist, Öl über Schiffe - auch Schattenflotten-Schiffe - zu transportieren.

Welche Sanktionen würden Russland wirklich hart treffen?

Auf pharmazeutische Produkte wie Medikamente oder Medizintechnik, aber diese sind aus humanitären - und damit guten - Gründen von Sanktionen ausgenommen. Außerdem könnten wir mit Drehscheiben-Ländern, die stark von der Handelsumlenkung profitieren, wie Kirgisistan oder die Türkei, anders umgehen. Wir könnten sagen, wenn ihr den Handel mit Russland nicht einstellt, kriegt ihr es mit der EU zu tun, also Sekundärsanktionen verhängen. Das wäre sicher wirksam, hätte aber nicht nur hohe Kosten für Europa, sondern würde bedeuten, dass wir uns mit den zentralasiatischen Republiken und der Türkei anlegen. Vor allem Letztere brauchen wir wahrscheinlich, um in der Ukraine Frieden herzustellen, als Mittler und konstruktiven Partner.

Welche Rolle spielen die USA? Der US-Senat dringt auf neue Sanktionen, um Russland zu Friedensverhandlungen zu bringen. Doch Trump will Putin seit seinem jüngsten Telefonat mit ihm offenbar verschonen.

Da ist kein starker Hebel mehr übrig. Zum einen haben die USA wegen ihrer geografischen Lage traditionell einen weniger intensiven Handel mit Russland als die EU. Zum anderen haben sie schon nach der Annexion der Krim 2014 ein hartes Sanktionsregime gefahren und damit ihren Handel mit Russland stark reduziert. Möglich wären jetzt noch Sanktionen im Bereich von Digitaldienstleistungen, etwa kein Zugang mehr zu Software-Updates für wichtige Programme. Andererseits waren solche Sanktionen etwa bei Telefonen bisher wenig effektiv - iPhones und die Software dazu gibt es auch in Russland. Es ist unklar, wie sich sicherstellen ließe, dass Updates, die man in Kirgisistan oder Kasachstan zulässt, nicht nach Russland kommen.

Also wären auch hier Sekundärsanktionen nötig?

Ja, allerdings müsste man dann mit den zentralasiatischen Ländern und der Türkei in Gespräche treten. Aber die haben natürlich null Interesse daran. Für sie läuft es derzeit perfekt: Sie kaufen Güter aus dem Westen zu Marktpreisen ein und können sie mit Aufschlägen weiterverkaufen. Überall, wo Profite zu holen sind, ist es schwer, mit Regulierung das Wasser abzugraben. Waren suchen sich ihren Weg und je strenger man einschränkt, desto höher die Profite, die sich durch Sanktionsbetrug oder Schmuggel generieren lassen.

Außerdem schaden wir uns mit den Sanktionen wirtschaftlich auch selbst - handelt es sich also um ein ökonomisches Eigentor?

Sanktionen, durch die man selbst reicher wird, gibt es nicht. Wenn zum Beispiel Russland weniger Öl per Schattenflotte exportieren kann, steigen auf dem Weltmarkt die Preise. Aber Russland leidet stärker unter den Sanktionen als der Westen. Andernfalls würde sich Russland nicht über die Sanktionen beklagen und hätte schon vorher mit den Ausweichländern Handel getrieben. Im Einzelfall könnte es passieren, dass unser Schaden größer ist als Russlands. Aber nicht im Großen und Ganzen, weil Russland im Vergleich zum Westen eine kleine Volkswirtschaft ist und damit prozentual stärker durch Sanktionen getroffen wird. Das gilt nicht für jedes einzelne EU-Land, aber im Durchschnitt.

Ist der Westen mit seinen Russland-Sanktionen somit nicht gescheitert, gibt es aus Ihrer Sicht keinen anderen Weg?

Ein Gamechanger wären Sekundärsanktionen oder Sanktionen in Bereichen, die bisher aus humanitären Gründen verboten sind. Das würde ich aber nicht empfehlen.

Auch nicht Sekundärsanktionen?

Das ist immer ein doppelseitiges Schwert. Kleine Länder ließen sich damit knebeln, ein Land wie Kirgisistan vielleicht. Aber bei den großen wie der Türkei überwiegt die Sorge, dass sie damit in Putins Arme getrieben werden. Auch wirtschaftlich wäre hier die Frage, ob der Westen das durchhält. Mit der Türkei haben wir eine Zollunion, das heißt, es fallen im Handel mit der EU keine Zölle an. Das betrifft im großen Stil Autoteile oder die Elektroindustrie - hier hätten wir in der EU also ein hohes Risiko. Mit kleinen Ländern ließe sich das wahrscheinlich durchhalten, aber das wäre sehr unfair, man würde die armen zentralasiatischen Länder treffen, aber nicht die Türkei. Aus meiner Sicht ist das eine Sackgasse. Ich halte die bisherigen Sanktionspakete deshalb für richtig. Auch das neue ist eher symbolisch, aber die Alternativen haben große Nachteile.

Mit Gabriel Felbermayr sprach Christina Lohner

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