Nach den Ausschreitungen bei einer propalästinensischen Kundgebung in Berlin war die Empörung groß. Weil ein Polizeibeamter schwer verletzt worden war, forderten Politiker harte Konsequenzen. Der Beamte soll in die Menge hineingerissen und „niedergetrampelt“ worden sein. Der 36-Jährige erlitt unter anderem einen Armbruch. Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) sprach von einem „Mordversuch an einem Polizeibeamten“, Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) äußerte sich im Bundestag. „Die Polizei braucht keine Skepsis, sondern Rückendeckung durch die Politik“, sagte er.
Doch mittlerweile gibt es selbst in Behördenkreisen Zweifel an der ursprünglichen Darstellung der Geschehnisse. Während am Einsatz beteiligte Beamte von einem gezielten Angriff sprechen, werfen Videoaufnahmen Fragen auf, ob sich diese Version tatsächlich halten lässt.
Mehrere Filmsequenzen, die WELT gesichtet hat, zeigen einen Beamten, der bei einer heftigen Rangelei während einer Festnahme zu Boden geht. Eine weitere Person stürzt auf ihn, dann greifen Beamte einer Einsatzhundertschaft ein. Was genau in diesen Sekunden geschieht, bleibt unklar. Keines der im Internet veröffentlichten Videos zeigt den vollständigen Ablauf.
Am Ende sieht man lediglich wie der Beamte, getrennt von seiner Einheit, plötzlich an einem Absperrgitter lehnt, von Kollegen untergehakt und aus dem Demonstrationsgeschehen hinausbegleitet wird. Dort sackt er schließlich zusammen und muss ärztlich behandelt werden. Ein hinzugezogener Notarzt entschied sich, die Dienstkleidung des Mannes aufzuschneiden – wegen eines zunächst vermuteten Thoraxtraumas.
Eine erste Meldung zu einem schwer verletzten Kollegen sei laut Polizei während des „sehr dynamischen Einsatzgeschehens“ gegen 19 Uhr mündlich durch den Einsatzhundertschaftsführer erfolgt.
Eine in den sozialen Medien veröffentlichte Filmsequenz, die den Moment zeigen soll, in dem sich der Beamte verletzt hat, sei nach Polizeiangaben „gegen 18.45 Uhr“ entstanden. Darauf ist zu sehen, wie der Polizist zu Boden geht, eine weitere Person fällt auf ihn. Die Aufnahmen zeigen jedoch kein gezieltes Niedertreten. Die Polizei betont, dass alle bislang veröffentlichten Videos unvollständig seien und lediglich Momentaufnahmen darstellten. Ein möglicher Angriff könne sich in Sekundenbruchteilen ereignet haben, ohne in den Aufnahmen klar erkennbar zu sein, heißt es auf Nachfrage der WELT.
Die Berliner Polizei bleibt bei ihrer Darstellung, wonach der Beamte angegriffen, zu Boden gebracht und dort massiv getreten worden sei. Er erlitt Verletzungen an Gliedmaßen und Oberkörper, trug auf dem Weg ins Krankenhaus eine Sauerstoffmaske und wurde stationär behandelt. Am Folgetag wurde er entlassen. Dienstfähig ist er bis heute nicht.
Insgesamt wurden bei der Demonstration elf Polizisten verletzt, 56 Personen festgenommen und 42 Strafverfahren eingeleitet – unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Landfriedensbruchs. Damit war die Nakba-Kundgebung gewalttätiger als die linksradikale Mai-Demonstration.
Die Berliner Polizei hat inzwischen ein Hinweisportal im Internet eingerichtet und bittet die Öffentlichkeit, Videoaufnahmen hochzuladen, die Rückschlüsse auf die Tat oder auf beteiligte Personen zulassen. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat die Ermittlungen übernommen. Sie teilte auf Anfrage der WELT mit, dass Beweismittel gesichtet und Zeugen befragt werden, um den „tatsächlichen Ablauf“ zu rekonstruieren. Weitere Angaben machte die Behörde mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht.
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