An einem windstillen, sonnigen Nachmittag im April übt die Deutsche Marine den Krieg in der Ostsee. Auf einem Deck der „Mosel“ hämmert das schwere Maschinengewehr. Jede Salve drückt selbst in einigen Metern Abstand auf den Brustkorb. Auf dem Bug röhrt eine noch größere Maschinenkanone. Alle Schiffe des Verbandes schießen nacheinander auf die „Killertomate“ – eine orange Übungsboje aus einem wachsartigen Stoff, die sich später im Meer biologisch abbaut.

Die „Mosel“, ein Versorgungsschiff der Marine, ist mit fast 100 Männern und Frauen weit über ihre Stammbesatzung hinaus belegt. Sie ist das Zentrum dieses Manövers mit Verbündeten – hier sitzt die Verbandsführung, in einem Minenjagdverband der Nato ist sie unterwegs von Kiel ins polnische Gdansk (Danzig). Die Deutsche Marine hat das Manöver organisiert und leitet es, Schießübungen gehören zum Repertoire. Doch es bleibt offen, was Maschinengewehre gegen einen Gegner ausrichten können, der seine Hyperschallraketen im Krieg wohl auch gegen Schiffe einsetzen würde.

Dieser Tage veröffentlicht der Inspekteur der Marine den „Kurs Marine“, der die militärische Lage auf See beschreibt. Darin heißt es kurz und klar: „Im Ostseeraum konkretisiert sich die Gefahr.“ Im Konfliktfall könnte Russland versuchen, die Nato „zunächst mit konventionellen Mitteln aus der Ostsee zu drängen und eine See- und Lufthoheit aufzubauen. Gestützt auf die Regionen Kaliningrad und St. Petersburg verfügt der Gegner über umfassende luft-, land- und seegestützte Fähigkeiten.“

Mit modernen Waffensystemen sei Russland in der Lage, „die vitalen Nachschubwege der Alliierten im Baltikum und Skandinavien zu stören, ihr Territorium im Ostseeraum zu isolieren – und im schlimmsten Fall zu besetzen“. Die Antwort der Nato: „Eine Operationsplanung, welche die Freiheit der See verteidigt und den Nachschubweg von der amerikanischen Atlantikküste bis in die östliche Ostsee offen hält.“ In Militärkreisen gilt die Ostsee als „Badewanne der Nato“ – weil das Bündnis seit dem Beitritt von Finnland und Schweden nahezu die gesamte Region kontrolliert.

Gerade erst meldete die Moskauer Zeitung „Iswestija“, die russische Marine wolle pro Flotte neuartige Drohnenverbände aufstellen, die automatisierte Systeme für Aufklärungs- und Kampfeinsätze in den Dimensionen Land, Luft und See umfassen, etwa mit der Flugdrohne Orlan-10.

„Im Ostseeraum bedroht Russland uns alle“, sagte Außenminister Johann Wadephul WELT AM SONNTAG am Donnerstag. „Die Bedrohungslage hat sich in den letzten Monaten immer weiter verschärft: Durchtrennte Kabel, gestörte Signale und verdächtige Schiffe machen uns große Sorgen.“ Er kündigte weitere Patrouillen an. Ein „absolutes Sicherheitsrisiko“ sei zudem die russische Schattenflotte. Die EU werde diese Schiffe jetzt „mit weiteren Sanktionen belegen“.

Wie ernst die Situation ist, zeigte sich diese Woche. Die estnische Marine wollte vor Finnland einen Tanker der Schattenflotte, unterwegs ohne Flagge und auf der britischen Sanktionsliste, kontrollieren, was dieser verwehrte. Woraufhin ein russischer Kampfjet auftauchte und in Nato-Hoheitsgebiet eindrang.

Kriegstauglich, damit kein Krieg beginnt

In diese Lage fällt das Manöver, das Fregattenkapitän Mario Bewert auf der „Mosel“ führt. Er ist 37 und Vizekommandeur des 3. Minensuchgeschwaders in Kiel. „Wir untersuchen den Meeresgrund mit den technischen Mitteln der Deutschen Marine, weil wir es können“, sagt er in seinem kleinen Büro im Brückenhaus. „Unsere Informationen sind Teil eines größeren Unterwasser-Lagebildes in der Nord- und der Ostsee.“ Auch den Schiffsverkehr hat er im Auge: „Wenn ein russisches Forschungsschiff monatelang durch die Ostsee transitiert, dann fahren die Marinen der Nato im Zweifel schon mal hinterher.“

Erfahrene Offiziere wie er organisieren die Kriegstauglichkeit auf der Ostsee, damit dort kein Krieg beginnt. Und doch, wie hungrige Seewölfe wirken er und seine Kameraden auch in der martialischen Manöverkulisse nicht. Einer erzählt von der neuen Solaranlage auf seinem Hausdach, ein anderer schwärmt vom Landleben in Schleswig-Holstein, im Schiffsbüro eines dritten stehen aufgereiht die Familienbilder. Fragt man die Männer nach dem Ernstfall, flüchten sie sich in Floskeln: Ein Marineoffizier geht, „wohin er geschickt wird“. Alles klar?

Es geht so. Scharfe Schüsse wie auf Feindfahrt neben sanften Lebensträumen – die Szene auf der „Mosel“ ist symptomatisch für die Stimmung an Bord wie im Land. Das steht mit einem Bein im scheinbar ewigen Frieden, mit dem anderen im lange Undenkbaren, im Krieg. Status: Es ist kompliziert.

Ein Schiff weiter, auf dem Minenjagdboot „Datteln“, geht es zu wie in einer WG auf See. Die Minentaucher schlafen in Hängematten im Kleiderdepot, die Bordwachen teilen sich ihre Kojen, ihre „Böcke“, wie man bei der Marine sagt. Räume und Kammern sind gefüllt mit Menschen und Material. Der Smut habe „eine Kleinigkeit vorbereitet“, begrüßt Fregattenkapitän Marcus Fiene. In der beengten Messe warten köstlich belegte Brötchen, Trauben und Sandwiches mit Thunfisch. Für die Seelenpflege an Bord ist der Koch der wichtigste Mann nach dem Kommandanten.

Seit Anfang des Jahres steht die „Datteln“ als Teil des Nato-Minenjagdverbandes in der Ostsee, sie zählt zur vordersten Linie der Seeverteidigung. Auch um das Erbe vergangener Weltkriege kümmert sie sich. Zehntausende Minen und Torpedos liegen in der Nord- und der Ostsee, jede Art von Munition, auch Chemiewaffen, insgesamt rund 1,6 Millionen Tonnen. Die Kampfmittel zu finden und zu sprengen, die nach Jahrzehnten noch auslösen können – „das ist eine Aufgabe für Generationen“, sagt Fiene.

Gemessenen Schrittes geht der 45-Jährige über sein Boot, kräftig und gedrungen, spricht mit seinen Männern und behält die Situation im Blick. Als Fregattenkapitän könnte er jedes deutsche Kriegsschiff kommandieren und ganze Verbände führen. Doch tun will er genau das hier; in drangvoller Enge auf einem Boot aus nicht magnetischem Spezialstahl etwa Minen mit Magnetzünder finden, bei Rotlicht im Operationsraum oder nachts auf der Brücke die Ostsee absuchen. Er ist der dienstälteste Kommandant auf den zwölf deutschen Minenjagdbooten und vertritt deren Interessen bei der Geschwaderführung in Kiel: „Ich bin hier quasi der Klassensprecher.“

Russlands Großinvasion in die Ukraine hat die Lage auch für die Minenjäger deutlich verändert. In großer Eile liefen damals alle verfügbaren deutschen Marineeinheiten in die Ostsee aus, ohne dass die Besatzungen wussten, was passieren würde, träfen sie auf russische Kriegsschiffe. „Da macht man sich schon Gedanken“, sagt Fiene. Man habe damals russische Einheiten gesehen, sich gegenseitig beobachtet. Zwar gab es „keine Konfrontation“, aber das Misstrauen sei gewachsen, man verfolge viel genauer als früher, was die andere Seite tue.

Für die „Datteln“, etwa mit dem ferngelenkten „Seehund“ hoch spezialisiert darauf, den Seegrund abzusuchen, geht es nicht mehr nur um Altmunition, sondern auch um kritische Infrastruktur, Pipelines, Strom- und Datenleitungen, die mutmaßlich von Russland beschädigt werden könnten, wie mehrfach geschehen. Und so übt der Minenjagdverband auch die Untersuchung des Seebettes und nimmt Schiffe, die über Energieleitungen kreuzen, statt ihrer Route zu folgen, ins Visier.

„Wir haben in den vergangenen Monaten mehrfach Schiffe gesehen, die sich auffällig verhalten, sie beobachtet und nach bestimmten Kriterien abgefragt“, sagt Fiene. „Die Ostsee erscheint klein, aber hier ist verdammt viel Verkehr.“ Es gebe aber kein Mandat, bei bloßem Verdacht an Bord zu gehen. Heißt das, die Marine hat gegen Sabotage und Provokationen nichts in der Hand? Das sehen Kommandeure und Kommandanten nicht so. „Präsenz zeigen“, so beschreiben sie neben den Übungen die wichtigste Funktion des Manövers.

Vor dem Einlaufen in Danzig wird klar, was in der Ostsee heute los ist. In der Nacht wird die Bereitschaft auf der „Mosel“ heraufgesetzt, mehr Wachen ziehen auf, die Gefechtsstände werden besetzt. „Kriegsmarsch“ nennt die Marine diese Stufe. Zwei russische Drohnen, die den Verband ausspähen sollen, wurden geortet. Unweit der Nato-Flotte übt die russische Marine vor der Exklave Kaliningrad. Die Drohnen werden mit einem elektronischen Impulsgerät vertrieben, einem „HP 47“, das die Funkfrequenz und das GPS stört. „Einen unfreundlichen Akt“ nennt Bewert am nächsten Morgen die russische Aktion. Wahr ist aber auch: Die Nato will hier gesehen werden, um Russland abzuschrecken.

Dann läuft der Verband auf der Westerplatte in Danzig ein. Am 1. September 1939 hatte das deutsche Linienschiff „Schleswig-Holstein“ genau hier begonnen, polnische Stellungen zu beschießen – der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg. An den Maschinengewehren der „Mosel“ stehen Schützen in Schutzwesten und Sturmhauben. Ein Matrose zieht am Heck die Dienstflagge der deutschen Seestreitkräfte auf, als das Schiff den Hafen erreicht, Schwarz-Rot-Gold mit Bundesadler. Auf der Mole sitzen Angler und winken freundlich.

Der General sieht die Lage dunkelrot

Der deutsche Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, der Mann, der die Nato-Ostflanke kommandiert hat, erlebte den Tag, als Putin im Februar 2022 die Ukraine überfiel, in Stettin. Erst wenige Monate führte er dort das Nato Multinationale Korps Nord-Ost als Kommandierender General. Seit wenigen Tagen nun trägt von Sandrart Zivil. Frisch aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, empfängt er zum Gespräch.

„Als ich übernommen habe“, beginnt der General, „war klar, die Ampel steht auf Dunkelrot. Ich gebe zu, wir alle haben noch gehofft, es kommt nicht zum Krieg.“ Aber in Gesprächen mit estnischen und polnischen Militärs sei ihm schon im Dezember 2021 klar geworden, „dass diese Hoffnung unbegründet war. Am Ende lagen wir mit unserer Prognose nur etwas daneben. Das ist nicht perfekt, aber es zeigt, dass das nachrichtendienstliche Bild bei der Nato sehr eindeutig war: Es läuft auf Krieg hinaus.“

Das Dilemma des Westens damals: „Wir hatten Putin sechs Monate zugeguckt, und jetzt klappte es um von Aufmarsch in Krieg. Und die verbleibenden vier, fünf Wochen waren zu kurz, um noch irgendetwas zu tun, das Putin davon abbringen würde. Das war die Lage bis zum 24. Februar 2022.“ Dann habe die Nato rasch reagiert, da habe sich Putin das erste Mal verkalkuliert. „Die Verteidigungspläne wurden sehr schnell aktiviert in ganzer Breite.“

Den Auftrag des Saceur (Supreme Allied Commander Europe) habe er als Kommandeur in Stettin so erfüllt: „Ich gab wenige Wochen später den Befehl zur Verteidigung meines Verantwortungsbereichs – des Baltikums und Nordostpolens gegen die Bedrohung aus Westrussland. Für mich ein historischer Moment, eine Zäsur. Ich hatte mir nicht vorstellen können, zu meinen Lebzeiten einen scharfen Verteidigungsbefehl zu geben.“

Von Sandrart hat Kriegserfahrung. In Nord-Afghanistan geriet er am 28. Mai 2011 in einen schweren Anschlag auf deutsche und afghanische Kommandeure und Soldaten. Es gab Tote und Verwundete. Er schilderte damals das Erlebte dieser Redaktion: „Bei so einer Detonation kommt in kürzester Zeit alles zusammen: Feuer, Rauch, Schreie, Schüsse – durch das Feuer explodierte bei den getroffenen Soldaten die Munition in den Magazinen.“ Mit bewaffneten Kameraden drang er in Richtung des Gefechtslärms vor. Sie taten, „was getan werden musste: Eigensicherung aufrechterhalten, die Verwundeten versorgen und die Toten bergen. In so einer Extremsituation spielt der Dienstgrad keine Rolle, da gilt es innerhalb der ‚Schicksalsgemeinschaft‘ koordiniert und entschlossen zu handeln.“

Elf Jahre später wurde es für ihn wieder ernst, nun aber so richtig. „Das war etwas ganz anderes als Afghanistan“, sagt von Sandrart. „Klar, da flogen Kugeln, aber hier ging es um unsere Existenz, um die Frage, sind wir verteidigungsbereit? Ein Szenario, das wir völlig aus unseren Köpfen verbannt hatten.“ Seine Offiziere und Unteroffiziere hätten dafür gar kein Referenzmodell mehr aus ihrer Erfahrung gehabt. „Ein Dinosaurier wie ich kennt das noch, der im Kalten Krieg eingezogen wurde und Landesverteidigung geübt hat. Aber auch wir waren ja für Auslandseinsätze ausgebildet – und jetzt wieder Krieg in Europa, wieder klassische Verteidigung. Das war schon ein Sprung ins kalte Wasser.“

Seine Befehlsausgabe im Frühjahr 2022 als Kommandierender General Nord-Ost sei eng abgestimmt gewesen mit den Amerikanern, mit allen Nationen im östlichen Nato-Raum. „Das hat hervorragend geklappt.“ Mehr noch: „Der Befehl fiel auf dankbaren Boden. Die Balten und Polen sahen, erstmals reden wir nicht akademisch über eine Bedrohung, über Verteidigungsideen. Endlich wird aus einer akademischen eine Real-Betrachtung.“ Die Nationen der Nato-Ostflanke hätten jeweils Verteidigungspläne gehabt und die Nato einen groben Plan. „Dieses Mosaik fügte sich jetzt zu einem gemeinsamen Plan zusammen.“

Reicht der, wenn es ernst wird? Auch hier gilt: Geht so. Putins Krieg, sagt der General, lehre, „dass die Nato wie im Kalten Krieg die Rolle des First Responder spielen muss – der akuten Reaktion“. Und da liegt das Problem. Beim Antrittsbesuch in Warschau habe der Chef des polnischen Generalstabs zu ihm gesagt: „Joachim, das ist total cool mit der Nato, aber wenn ihr erst bei X plus 60 oder 90 Tagen zur Verfügung steht, dann nützt ihr mir nichts, denn ich muss die Phase X gewinnen.“

„Liefert die Nato nicht, ist sie obsolet“

X ist der Angriffsbeginn. Das habe ihm gezeigt, „die Skepsis gegenüber der Bündnisverteidigung ist einfach da und auch strukturell begründet.“ Denn die Nato-Mentalität sei nicht mehr darauf ausgerichtet gewesen, „wir sind am Tag null in der Stellung. Sondern auf die Annahme: Wenn das losgeht, beginnt unser Entscheidungsprozess. Wir wissen jetzt, dass wir diese Zeit nicht haben.“

Das aber könne keine Nation allein leisten. „Also bildeten sich Koalitionen der Willigen innerhalb der Nato.“ Natürlich sei die meistpräferierte Partnerschaft die mit den USA, so von Sandrart, weil sie die ganze Bandbreite der Unterstützung böten, „und zwar am Tag null. Wenn die Nato das im Zweifel ohne die Amerikaner nicht liefern kann, ist sie obsolet.“

Putin tue, was er sage: den für ihn historischen Fehler der Auflösung der Sowjetunion korrigieren. „Das ist seine Mission, sein Kriegsziel. Wer das nicht sehen will, handelt grob fahrlässig. Wenn Putin den Krieg gegen die Ukraine nicht verliert, hat er gewonnen.“ Dann habe er den Krieg als Mittel seiner Politik legalisiert. „Seine Gewinn-und-Verlust-Rechnung ist völlig anders als unsere. Ihm ist es egal, ob dafür 600.000 Russen sterben.“

Die Nato sei verteidigungsbereit, versichert von Sandrart. „Um die habe ich mir als Kommandierender General keine Sorgen gemacht, die hatte ich im Griff. Was wir nicht im Griff haben, sind unsere Hauptstädte. Ich mache mir mehr Sorgen über das, was in meinem Rücken ist, als über das, was vor mir liegt.“

Der Ernstfall ist wieder da – Verteidigung gegen einen klar definierten Gegner –, und er wird nicht nur in Manövern geübt. Es gibt ihn auch als Brettspiel, erfunden von einem Oberst der Bundeswehr, der zugleich außerhalb der Truppe zu hybriden Bedrohungen forscht: Sönke Marahrens.

Der Experte für militärische Konflikttheorie war als Verbindungsoffizier im Pentagon eingesetzt und in Bosnien, Kosovo, Afghanistan. An einer Denkfabrik in Helsinki sah er, dass Zuhörer seinen Vorträgen aufmerksam lauschten, aber alles bald wieder vergaßen. Es fehlte die Anschauung.

Krieg als Brettspiel

Marahrens erinnerte sich an die Preußen, die bereits vor etwa 200 Jahren die Regeln der Kriegskunst in einem Spiel vermitteln wollten. So sollten Offiziere lernen, „Entscheidungen zu treffen und sich auf Szenarien auf dem Schlachtfeld vorzubereiten“. Das wollte er auch. Sein Spiel besteht aus einer 1,5 Quadratmeter großen Platte und acht Spielplänen im DIN-A3-Format. „Hybrid Commander Sisu“ heißt es. Sisu ist ein finnisches Wort für innere Stärke, Durchhaltevermögen und Widerstandsfähigkeit. Um die Spielanordnung sammeln sich bis zu 25 Personen, die Spielzeit beträgt in der Regel sechs Stunden.

Das Spiel stoße bei Militärs, aber auch bei Mitarbeitern politischer Parteienstiftungen auf Interesse. Bei US-Politikern sei Wargaming äußerst beliebt. Marahrens erklärt, warum er den Ostseeraum für sein Spiel gewählt hat. „Dort sind ganz unterschiedliche Bedrohungslagen glaubhaft vorstellbar.“ Etwa, dass der Kreml die russischstämmige Bevölkerung eines baltischen Staates aufstachelt und diese daraufhin Moskau um Hilfe bittet.

Oder der Fall, dass russische Flugzeuge in den litauischen Luftraum eindringen und dort Bomben auf eine Kaserne der Bundeswehr werfen. Anschließend spricht der Kreml von einem tragischen Unfall. Auf solche und ähnliche Situationen müssen die Spieler angemessen reagieren. Wenn alle erklären, dass der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags oder nach vergleichbaren Regelungen im EU-Vertrag ausgerufen werden muss, endet das Spiel.

Was dann in der Realität folgen würde, wäre ein richtiger Krieg. Und der, sagt Marahrens, werde anders ablaufen, als es sich die meisten Deutschen vorstellen könnten – brutaler und ohne Rücksicht auf Konventionen. Enthemmte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sei fester Bestandteil der russischen Militärstrategie. „Da darf man sich keinen Illusionen hingeben.“

Die Denkfabrik, an der Marahrens die Idee seines Spiels entwickelte, heißt Europäisches Exzellenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen, kurz Hybrid CoE. Es sitzt mit 50 Mitarbeitern in einem modernen Bürohaus in Helsinki und wird geleitet von Teija Tiilikainen, ehemals Direktorin des Finnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten und Staatssekretärin im Außenministerium.

Für Nichtmilitärs mag hybride Bedrohung eine diffuse Sache sein – Fachleute nehmen sie äußerst ernst. „Wir werden mittlerweile von 36 Ländern getragen. In dieser Gemeinschaft teilen wir Informationen, lernen voneinander und erkennen, welche hybriden Methoden wie eingesetzt werden und welche Abwehrmöglichkeiten es gibt“, erklärt Tiilikainen. Ihre Einrichtung sei die einzige ihrer Art in Europa, alle EU- und Nato-Staaten seien dabei. Die USA spielten eine wichtige Rolle. „Wir haben amerikanische Mitarbeiter, Vertreter der US-Regierung suchen Rat bei uns. Das hat sich bislang unter Trump auch nicht geändert.“

Die 61-Jährige leitet das Hybrid CoE seit 2019. In dieser Zeit erlebte sie, wie die hybriden Bedrohungen massiv zunahmen. „Wir sehen vor allem im Ostseeraum, dass immer mehr Instrumente zum Einsatz kommen und immer mehr Akteure sie mit dem Ziel einsetzen, unsere Werte, unsere Sicherheit und unsere Stabilität zu untergraben.“ Russland nehme besonders auch Deutschland ins Visier, wegen seiner wichtigen Rolle in der EU und den engen transatlantischen Beziehungen. Moskau gehe es darum, die Gesellschaft so zu schwächen und zu spalten, damit Deutschland an Einfluss verliere.

Die Finnin wählt ihre Worte mit Bedacht, doch sie klingen beunruhigend. „Russland bereitet sich bereits jetzt auf einen militärischen Konflikt mit dem Westen vor. Im Ostseeraum werden dazu verschiedene Szenarien wie Sabotage von Kabeln und Pipelines, GPS-Störungen oder Cyberangriffe durchgespielt, um unsere Reaktionen zu testen.“ Putin habe bislang keinen konkreten Plan, ob er einen militärischen Konflikt riskieren wolle und wann. „Er wartet auf Gelegenheiten. Sobald EU und Nato Schwächen zeigen, steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Konflikt.“

Ein Risiko namens Trump

Johannes Peters hat sein großes Thema immer vor Augen – die Ostsee. Von seinem Büro aus schaut er auf sie. Er forscht am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und leitet dort seit vier Jahren die Abteilung Maritime Strategie und Sicherheit, die auf ihrem Gebiet als das führende Kompetenzzentrum in Kontinentaleuropa gilt.

Beim Gespräch dort steht Peters noch unter dem Eindruck jenes Eklats, der für weltweites Aufsehen sorgte: Wie der ukrainische Präsident im Weißen Haus von Donald Trump und seinem Vize gedemütigt wurde. Peters schüttelt den Kopf: „Wir wachen gerade in einer neuen geopolitischen Realität auf. Die Amerikaner sind unter Trump kein verlässlicher Wertepartner mehr. Ein militärischer Konflikt des Westens mit Russland ist jetzt wahrscheinlicher geworden. Und wenn es dazu kommen sollte, wird er im Ostseeraum beginnen.“

Peters’ Urteil über die Trump-Regierung ist vernichtend. Sie habe binnen Wochen ein 80-jähriges Kontinuum amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik pulverisiert. Offenkundig hege der US-Präsident mehr Sympathien für Geschäfte mit Russland als für die Sicherheit des Westens. „Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird Russland noch stärker als bisher versuchen, die Nato zu testen. Oder das, was von der Nato übrig ist. Wenn wir ehrlich sind, ist die Nato schon jetzt schwer angezählt, weil Trump den Artikel 5 des Bündnisvertrags öffentlich infrage gestellt hat.“

Artikel 5 – der Bündnisfall. Wird ein Nato-Land angegriffen, sollen alle Mitglieder Beistand leisten. Das geschah erst einziges Mal: als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Zuletzt ließ Trump mehrfach Zweifel aufkommen, ob er sich noch an das Prinzip der kollektiven Verteidigung gebunden fühlt.

Für Peters ist dadurch eine gefährliche Situation entstanden. Putin habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die baltischen Nato-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen für keine legitimen Staaten hält. So wie für ihn auch die Ukraine kein legitimer Staat sei. „Diese Teile der ehemaligen Sowjetunion betrachtet er als ureigenstes russisches Gebiet, auf dem nie eine Staatswerdung hätte stattfinden dürfen“, erklärt Peters. Putin wolle die Geschichte zurückdrehen und Grenzen nach seinem Weltbild neu ziehen.

Für die baltischen Staaten werde es damit ungemütlicher. Zwar hätten sie an politischem Gewicht gewonnen, aber: „Die Balten mit ihren flächenmäßig kleinen Ländern und vergleichsweise wenigen Einwohnern sind Sicherheitsempfänger und keine Sicherheitslieferanten. Das kann man nicht wegdiskutieren.“

Glaubhafte Abschreckung, sagt Peters, habe zwei Komponenten: die Fähigkeiten und den Willen. Breche eine weg, sei Abschreckung wenig wert. Die Fähigkeiten habe die Nato zweifelsfrei. Fehle jedoch der Wille, helfen diese ihr nichts. Und Russland teste gerade, wie es um beide Komponenten bestellt sei. Wie schon im Kalten Krieg sei die Ostsee dabei zu einer zentralstrategischen Arena geworden.

Russische Forschungsschiffe operierten entlang kritischer Infrastrukturen, „nicht nur auf der Ostsee, sondern auch im Mittelmeer, in der Nordsee und im Atlantik“. So versuche der Kreml ständig, rote Linien zu verschieben und zugleich die westliche Reaktionsfähigkeit zu testen. „Wer reagiert, wie schnell wird reagiert, was ist der Modus Operandi, welche Stellen sind involviert? Das muss man immer im Hinterkopf behalten: Mit jeder Reaktion auf hybride Angriffe werden Informationen preisgegeben.“

Auch General von Sandrart macht die neue US-Regierung Sorgen – „der Trumpismus, der den transatlantischen Rückhalt kappt. Das kann existenziell werden“. Dafür sieht er erste Anzeichen. Im März war er auf einer Sicherheitskonferenz in Vilnius. „Von den vielen internationalen Konferenzen, die ich erlebt habe, war das die erste, auf der kein offizieller Vertreter der USA auftauchte.“

Was, wenn die Lage eskaliert? Peters sieht wie von Sandrart vor allem eine Schwachstelle: „Es gibt keine europäische Luftverteidigung, die in der Lage wäre, uns effektiv vor Angriffen zu schützen.“ In der russischen Exklave Kaliningrad habe der Kreml ein riesiges Arsenal mit nuklearfähigen Raketen aufgebaut – nur 400 Kilometer vom deutschen Staatsgebiet entfernt. Peters malt ein düsteres Bild: „Wir können um Berlin herum vielleicht drei, vier moderne Iris-T-Flugabwehrsysteme aufstellen. Dann wäre die Stadt recht gut geschützt. Aber was ist mit anderen Städten in Deutschland und in Europa, die in der Reichweite der Kaliningrader Raketen liegen? Ein völliger Schutz ist eine Illusion.“

Vorerst scheint das Nato-Versprechen zu halten. Ab dem 5. Juni findet wieder das jährliche multinationale Manöver Baltic Operations (Baltops) in der Ostsee statt: drei Großübungen mit 30 internationalen Kriegsschiffen und Tausenden Soldaten vor Rostock. Die US-Marine werde auch dieses Jahr daran teilnehmen, erklärt Lieutenant Commander Jason Tross von den US Naval Forces Europe-Africa auf Anfrage.

Die US-Präsenz bei der Übung ist normalerweise stark und umfasst ein Führungs- und Kontrollschiff sowie mehrere große amphibische Schiffe, die Hunderte Marines transportieren und von denen Kampfflugzeuge und Hubschrauber starten können. 2024 nahmen die „USS Wasp“ und „USS New York“ mit der 24. Marine Expeditionary Unit sowie das Führungsschiff „USS Mount Whitney“ daran teil – es wird laut einem Marineoffizier, der anonym bleiben möchte, wohl auch dieses Mal eine ähnliche Rolle übernehmen.

Das Schiff traf am 3. Mai auf Kap Verde ein, zu einer Übung mit afrikanischen Marinen. Die „Wasp“ verließ am 28. April den Hafen in Norfolk im US-Staat Virginia zu einem Einsatz im Atlantik und könnte ebenfalls die Rolle übernehmen, die in früheren Jahren amphibische Schiffe spielten. Sie ist eines der wenigen amphibischen Schiffe, die F-35B-Kampfjets transportieren.

Bryan Clark, ein ehemaliger U-Boot-Offizier, sagt, die Übungen seien für das Bündnis entscheidend, um den gemeinsamen Einsatz zu trainieren, aber auch, wie man effektiv kommuniziert und kritische Echtzeitinformationen von U-Booten über Schiffe bis hin zu bemannten und unbemannten Flugzeugen weitergibt. „Gegenwärtig sind die Nato-Streitkräfte in der Ostseeregion zahlenmäßig und qualitativ Russland überlegen und sollten in der Lage sein, russische Angriffe abzuwehren.“

Im Schatten russischer Raketen

Je näher an Russland, desto illusionsloser ist Europa. Litauer oder Polen wissen aus leidvoller Geschichte, was es heißt, neben einem nimmersatten Imperium zu leben. Sie haben ihre Grenzen zu Kaliningrad hart abgeriegelt. „Hier kommt keiner mehr durch, von dem wir es nicht wollen“, sagt Mariusz Haraf, der stämmige polnische Kommandant des größten Grenzübergangs hier, benannt nach dem Dorf Grzechotki. Und als wende er sich an illusionsverliebte Westeuropäer: „Wir schützen hier nicht nur unsere 38 Millionen Landsleute, sondern alle Bürger der EU.“

An der Grenzstation ist wenig los. Die hochmoderne Anlage wurde im Dezember 2010 mit großen Erwartungen eröffnet. Sieben Spuren in beide Richtungen. Einst passierten hier täglich bis zu 8000 Autos die Grenze. Zahlen aus einer anderen Zeit. Heute sind es gerade mal 600 am Tag. 2022 stoppte Polen die Einreise russischer Bürger. Es folgte der Bau einer Sperre entlang der Grenze. Noch reisen dürfen nur Russen, die auch EU-Bürger sind oder eine der raren Sondergenehmigungen vorweisen können. Auch der Warentransport ist fast tot, vereinzelt tauchen Laster mit serbischen, türkischen oder mazedonischen Kennzeichen auf.

Haraf zeigt die Sicherungsanlagen der mehr als 200 Kilometer langen Grenze. Der Stacheldrahtverhau wirkt wenig wehrhaft. Aber das täuscht. Hier ist neueste Technologie im Einsatz, Kameras und Bewegungsmelder überwachen jeden Abschnitt, Sensoren unter der Erde erfassen jeden Schritt. Es ist nur die Fassade der Grenze. Die Militäranlagen, die einen russischen Angriff stoppen sollen, liegen einige Kilometer dahinter.

Wo und wie, das ist streng geheim. Bekannt ist nur, dass Polen Hunderte südkoreanische K2-Kampfpanzer im Sommer 2022 bestellt und nahe dieser Grenze stationiert hat. Kein anderes europäisches Nato-Land gibt so viel für Verteidigung aus. Die Grenze zum russischen Norden des früheren Ostpreußens ist wie mit dem Lineal gezogen, scharf durch das moränenhügelige, dünn besiedelte Flachland. „Manche Ortschaften, die noch auf der Karte verzeichnet sind, gibt es nicht mehr“, sagt Haraf. In Grzechotki herrscht gespenstische Stille, etliche Häuser sind verlassen.

Jenseits der Grenze unterhält die russische Flotte ihren größten Marinestützpunkt an der Ostsee – im Hafen Baltijsk an der Bernsteinküste. Hier hielt Russland 2017 erstmals mit China ein Seemanöver ab. Russen und Chinesen in der Ostsee. Weit mehr beunruhigte den Westen vor drei Jahren ein Manöver zu Lande. Russland simulierte Angriffe mit atomwaffenfähigen Raketen auf militärische Ziele eines „imaginären Feindes“. Putin drohte Vergeltung an, sollte es die Nato wagen, in den Ukraine-Krieg einzugreifen.

Das russische Fernsehen zeigte, wie lange eine Atomrakete von Kaliningrad braucht, um ihre Ziele zu erreichen: 202 Sekunden bis London. 200 Sekunden bis Paris. 106 bis Berlin. So wird es sein, wenn es ernst wird. Eine Sache von Sekunden. Und von fähiger Luftabwehr.

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