An der Front haben die Ukrainer unterdessen eine neue Methode gefunden, um die vormarschierenden Russen auszubremsen: Stacheldraht, wie im Ersten Weltkrieg. Ab Donnerstag soll in Istanbul verhandelt werden? Aus Sicht von Oberst Markus Reisner ist das ein Ablenkungsmanöver.
ntv.de: Am Donnerstag treffen sich - Stand jetzt - Vertreter der ukrainischen und der russischen Seite zu Verhandlungen in Istanbul. Präsident Putin hat das vorgeschlagen und zugleich die von Präsident Selenskyj angebotene 30-tägige Waffenruhe abgelehnt. Reine Verzögerungstaktik, wie viele mutmaßen?
Markus Reisner: Wenn der Kreml der Waffenruhe zustimmt, dann konsolidiert sich die Ukraine in den folgenden 30 Tagen - das ist das russische Narrativ. Sie kann geschwächte Verbände auswechseln, Ressourcen und Munition an die Front bringen, sich neu vorbereiten. Das dürfen wir nicht zulassen, sagt Wladimir Putin. Der Kreml-Chef ist von der russischen Dominanz auf dem Schlachtfeld überzeugt und will dem Gegner keine Pause lassen.
Würde Putins Armee nicht auch von einer Pause profitieren?
Betrachten wir dafür die russische Mentalität: Der Kreml ist nur dann zu Verhandlungen bereit, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. In diesem Zustand ist Russland derzeit aber nicht. Putin wird alles tun, um diese 30-tägige Waffenruhe zu vermeiden. Wären die Russen dazu bereit, wäre das ein Hinweis darauf, dass sie auch an ihre Grenzen kommen. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Aber nichts deutet darauf hin. Seit der Sommeroffensive im vergangenen Jahr hat die russische Armee das Momentum auf ihrer Seite. Auch wenn sich nicht sehr viel tut an der Front: Die Truppen schreiten kontinuierlich voran. Der Abnutzungskrieg schreitet voran, wie im Ersten Weltkrieg. Wenn eine Seite dann mal auf Null ist, kann es sehr schnell gehen. Das verläuft ganz anders als die Manöver-Kriegsführung, die wir oft im Zweiten Weltkrieg oder in den Golfkriegen gesehen haben.
Putin will nicht pausieren. Aber kann er die angedrohten Sanktionen ignorieren?
Aus meiner Sicht versucht Putin, auf Zeit zu spielen. Er möchte den Amerikanern vermitteln, dass er verhandlungsbereit ist, um sie ruhig zu stimmen. Sein Ziel ist, Zeit zu gewinnen. Am Wochenende war das sehr gut sichtbar: Die europäischen Vertreter haben Russland im Zuge ihres Ukraine-Besuchs das Ultimatum für die Waffenruhe gestellt. Heute läuft es ab. Putin ist überhaupt nicht darauf eingegangen, sondern hat dem einen anderen Schachzug entgegengesetzt, indem er sagte: Verhandeln wir doch am 15. Mai.
Selenskyj scheint bereit zu kommen.
Eine Anreise Putins ist sehr unwahrscheinlich. Normalerweise starten solche Verhandlungen mit Gesprächen zwischen Teams beider Seiten, um auszuloten, was eigentlich die Basis für die Verhandlungen sein soll. Dann wird über Tage, Wochen, im schlimmsten Fall über Monate verhandelt, um ein Ergebnis zu erzielen. Erst wenn der Prozess so weit gediehen ist, kommen die Staatsoberhäupter ins Spiel. Interessant wäre, wenn auch Trump zu den Gesprächen kommen würde. Das würde dem Ganzen Dynamik verleihen. Als Ausgangspunkt für die Gespräche will Putin die Forderungen nehmen, die bei den Istanbuler Gesprächen im April 2022 auf dem Tisch lagen.
2022 in Istanbul wollte Putin, dass Kiew zukünftig auf Kontakt zu westlichen Militärs verzichtet. Gemeinsame Übungen und Einkauf von Militärsystemen wären ebenso unterbunden worden. Zudem sollten die Ukrainer russische Truppen auf ihrem Grund und Boden dulden sowie ihre eigenen Streitkräfte weitgehend auflösen. Würde die Ukraine darauf eingehen, käme das nicht einer Kapitulation gleich?
Das sind Russlands Maximalforderungen. Keine Nato-Mitgliedschaft, eine neutrale Ukraine, eine nur schwach bewaffnete ukrainische Armee. Russland will der Ukraine aufzwingen, wie sie sich in Zukunft aufzustellen hat. Und ein Neutralitätsstatus mit verringerten Streitkräften birgt die große Gefahr, dass in einigen Jahren die Russen zurückkommen und die Ukraine dann eben nicht so potent aufgestellt ist wie jetzt und sich darum nicht wehren kann.
Gibt es Drohungen im Hintergrund?
Russland hat für den 13. Mai den Luftraum über einem wichtigen Übungsplatz gesperrt. Es ist das Testgelände von Kapustin Jar, von wo aus im vergangenen Jahr die Oreschnik-Mittelstreckenrakete gestartet wurde. Die Sperrung des Luftraums könnte bedeuten, dass Russland entweder einen größeren Angriff plant oder im Vorfeld der Verhandlungen am Donnerstag seine Fähigkeiten zur Schau stellen möchte. Zum Beispiel durch einen Raketentest oder -angriff.
Wie sieht es diese Woche aus an der Front?
Im Nordabschnitt bei Kursk rücken die Russen weiter auf ukrainisches Gebiet vor. Zwei interessante Vorstöße gibt es - zum einen nördlich von Sumy von den Russen, hier hat man eine ukrainische Grenzstation eingenommen. Im Gegenzug haben die Ukrainer versucht, zwischen Kiew und Kupjansk auf die andere Seite der Grenze zu kommen. Wahrscheinlich will man hier von ukrainischer Seite herausfinden, ob in nächster Zeit wirklich mit einem größeren Angriff zu rechnen wäre.
Wie sieht es im Mittelabschnitt der Front aus, im Donbass?
Sie ist nach wie vor das Schwergewicht für die russischen Angriffe. Moskaus Armee schafft fünf bis zehn Quadratkilometer pro Tag, versucht aber durch den verstärkten Einsatz von Artillerie, hier mehr Wirkung zu erzielen. Stichwort Artillerie: Laut einem Bericht stockt ein bedeutendes russisches Werk für die Herstellung von Sprengstoff seine Produktion von bislang mehreren tausend Tonnen auf 6000 Tonnen auf. Das zeigt: Russland geht nach wie vor davon aus, dass dieser Krieg länger dauern wird. Die USA haben Erkenntnisse, nach denen Russland inzwischen drei Millionen Granaten pro Jahr produzieren kann. Mit den nordkoreanischen Lieferungen kämen sie auf sechs Millionen jährlich. Eine enorme Zahl.
Wieviel steht den Ukrainern zur Verfügung - zum Vergleich?
Letztes Jahr wurden vom Westen 1.6 Mio und das Jahr davor 1.3 Mio Granaten geliefert. Artillerie und Drohnen sind aber nicht alle Fähigkeiten, die zum Einsatz kommen. Eine interessante Entwicklung beobachten wir entlang der Front: Die Ukrainer bringen immer mehr Stacheldraht aus, teils mit autonomen Bodensystemen, die das Gelände abfahren und Nato-Draht abrollen. Der wird in zwei oder sogar drei Reihen verlegt. Wenn dann die Russen versuchen, mit ihren kleinen Kampftrupps durchzusickern, laufen sie in diesen Stacheldraht hinein und scheitern.
Die kleinen russischen Trupps sind ja zumeist zu Fuß oder per Motorrad unterwegs. Und die scheitern an so etwas Profanem wie Stacheldraht?
Das ist das Paradoxe an diesem Krieg: Auf der einen Seite wird er geführt mit Methoden der Hochtechnologie, im elektromagnetischen Spektrum, mit Drohnen, die permanent angepasst werden an alle Frequenzen und Bandbreiten. Auf der anderen Seite wird er geführt mit …
… Stacheldraht.
Wir sehen auch den Einsatz von Eseln oder Pferden. Darüber wird dann gelacht, aber in unwegsamem Gelände können Esel und Pferd sehr effektiv Güter transportieren. Aber nochmal zu dem Draht: Der ist heute viel wirkungsvoller, als es der Stacheldraht im Ersten Weltkrieg war. Die Rollen sind bis zu anderthalb Meter breit und dieser Nato-Draht hat sehr scharfe Metallkanten und Stacheln, in denen sich die Kleidung verfängt. Man bleibt darin hängen und kommt nicht mehr raus, ob zu Fuß oder mit dem Motorrad. So lassen sich die Trupps dann bequem von den ukrainischen Drohnen aufklären und bekämpfen. Die Russen üben, wie man den Draht überwinden kann. Ein Motorrad legt sich quer, die anderen fahren drüber. Davon gibt es Videos. Aber letztlich hat die Ukraine mal wieder eine neue Methode gefunden, um den Vormarsch der Russen zumindest zu verzögern.
Kurz zum 9. Mai: Der Tag des Sieges wurde in Moskau gefeiert, und zwar sehr viel größer als in anderen Jahren. Was wollte der Kreml deutlich machen?
Die Parade war bestimmend in den russischen Medien. Und das nicht nur mit Bildern von neuem Gerät, sondern eingeladen waren auch Paradeformationen aus anderen Staaten. Belarus, Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisistan - sie alle haben teilgenommen und symbolisiert: Russland ist nicht allein. Das war aus meiner Sicht die zentrale Botschaft dahinter an das russische Volk. Zudem waren Vertreter befreundeter Staaten wie Vietnam, Ägypten, Laos, Mongolei und Myanmar anwesend und ganz wichtig: China.
Chinas Teilnahme sollte ebenso zeigen: Wir sind an Eurer Seite?
Ja, Xi Jinpings Anwesenheit sticht deutlich aus allen anderen heraus und hat aus meiner Sicht auch dazu geführt, dass die Ukraine sich dafür entschieden hat, die Parade nicht anzugreifen. Einen Angriff hatte Präsident Selenskyj ja in Aussicht gestellt. Die Teilnahme des chinesischen Staatschefs war der beste Schutz für Putin.
Und der war notwendig?
In den Tagen vor der Parade haben wir sehr intensive ukrainische Drohnenangriffe gesehen. Allein in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai sollen bis zu 526 ukrainische Drohnen geflogen sein. Das ist die größte Zahl an einem Tag, von einer Konfliktpartei eingesetzt, seit Beginn der Vollinvasion. Das hat zum Beispiel den kompletten Flugverkehr in Westrussland zum Erliegen gebracht. Das zeigt was die Ukraine, wenn sie alles an verfügbaren Kräften zusammenfasst, liefern kann.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
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