Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Aber es gibt Gewissensentscheidungen, die gewissenlos sind. Denn nach der Merz-Klatsche feiern die Falschen. "Verantwortung für Deutschland"? Davon kann keine Rede sein.
Damit hatte kaum jemand gerechnet. Knapp war es schon häufiger - legendär ist die erste Wahl von 1949, als Konrad Adenauer mit nur einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt wurde. Aber noch nie ist die Wahl eines Bundeskanzlers gescheitert.
Man könnte sagen: Friedrich Merz ist gescheitert, zumindest im ersten Wahlgang. Aber lag es an ihm? Über die Motive der Koalitionsabgeordneten, die ihm die Stimme verweigert haben, lässt sich nur spekulieren. War es Merz' Umgang mit der AfD kurz vor der Bundestagswahl? Lag es an den Grundgesetzänderungen zur Schuldenbremse und zum Sondervermögen, mit denen er noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen Wahlversprechen brach?
Oder, auch das ist möglich, richtete sich der Unmut gegen den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil, gegen seinen Griff nach neuen Ämtern, trotz eines schlechten Wahlergebnisses? Hat Klingbeil es mit der Neuaufstellung übertrieben? Von den alten, aus SPD-Sicht verdienten Ministerinnen und Ministern der Ampel hatte er lediglich Boris Pistorius für das nächste Kabinett auserkoren. Auch der Umgang mit Saskia Esken spaltet die SPD.
18 oder sogar mehr
Ungewiss ist selbst die Zahl. Merz erhielt 18 Stimmen weniger, als Union und SPD Abgeordnete haben. Theoretisch wäre es möglich, dass einzelne Mitglieder der Oppositionsfraktionen für Merz votiert haben. Dann wären es sogar noch mehr als 18 Abweichler gewesen.
Die genauen Hintergründe dürften im Dunklen bleiben. Kaum ein Abgeordneter aus den Reihen von Union und SPD wird sich dazu bekennen, nicht für Merz gestimmt zu haben. Aus guten Gründen: Sie alle haben eine Staatskrise riskiert. Ihr Verhalten ist in hohem Maße unverantwortlich.
Natürlich ist jeder Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet, wie es im Grundgesetz heißt. Aber eine solche Gewissensentscheidung, in diesen Zeiten, zu diesem Moment, ist gewissenlos. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sind alle Abgeordneten von Union und SPD, die Merz ihre Zustimmung verweigert haben, von einer gefährlichen Vermutung ausgegangen: dass ihr Abstimmungsverhalten folgenlos bleibt, dass die Kanzlermehrheit auch ohne ihre Stimme steht.
Sieht so Verantwortung für Deutschland aus?
Das war ein Irrtum. Aber selbst, wenn es so gekommen wäre: Zwar wäre die Abweichung faktisch irrelevant gewesen. Jeder Abweichler hat das Scheitern der Wahl bewusst in Kauf genommen. Vermutlich haben einige von ihnen nicht einmal gewusst, dass ein zweiter Wahlgang am selben Tag nicht automatisch möglich sein würde. Dass es ihn geben wird, ist erst Stunden später klar.
Das war gewissenlos, weil nun die Falschen feiern. AfD-Chefin Alice Weidel forderte bereits Neuwahlen. Ihr geht es ausschließlich um ihre Partei, nicht um das Land. Ihren Jubel, ihr Feixen haben die Abweichler von Union und SPD zu verantworten. Der Koalitionsvertrag, der am gestrigen Montag unterzeichnet wurde, war mit "Verantwortung für Deutschland" überschrieben. Er ist seinen Titel nicht wert.
Es ist möglich, nicht einmal unwahrscheinlich, dass Friedrich Merz im zweiten Wahlgang doch noch zum Bundeskanzler gewählt wird. Aber seine Kanzlerschaft, die gesamte Regierung, ist jetzt schon beschädigt. Auch ohne das Scheitern vom Dienstagmorgen wären Merz und die schwarz-rote Koalition mit einer schweren Bürde in ihre Amtszeit gestartet. Das Vertrauen der Deutschen in ihn und in die noch immer designierte Bundesregierung war schon vor dem geplatzten Wahlgang auf einem Tiefpunkt. Bisher konnten sich Union und SPD damit trösten, dass es nur noch besser werden kann. Auch das war ein Irrtum.
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