Friedrich Merz hat es geschafft. Die Koalitionsverhandlungen mit der SPD sind überstanden, der Koalitionsvertrag ist unterzeichnet. Der heutigen Wahl zum Bundeskanzler steht nichts mehr im Wege. Das war noch vor wenigen Jahren alles andere als zu erwarten.
Als Friedrich Merz am Abend des 23. Februar unter dem Jubel seiner Partei auf die Bühne des Konrad-Adenauer-Hauses tritt, ist es vollbracht: das wohl unerwartetste Comeback der jüngeren deutschen Geschichte. CDU und CSU haben die Bundestagswahl mit ihm als Spitzenkandidaten gewonnen. Auch wenn das Ergebnis nicht berauschend ist: Niemand anders kann den Anspruch erheben, die nächste Regierung zu führen.
Dabei sah es lange Zeit so aus, als ob es das war mit der Politik, nachdem er 2009 aus dem Bundestag ausgeschieden war. Doch dann sah er eine zweite Chance.
Rückblende: Ende September 2002 erlebt Merz zwei schwere Enttäuschungen. Erst verlieren die Unionsparteien mit dem Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber knapp die Bundestagswahl gegen Rot-Grün und SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Am Tag darauf, dem 23. September, kommt für Merz noch eine persönliche Schmach hinzu. CDU-Chefin Angela Merkel verdrängt ihn vom Fraktionsvorsitz - mit der Billigung Stoibers und anderer Unionsgranden. Merkel hat sich durchgesetzt und dampft mit voller Kraft voraus. Merz wird aufs Abstellgleis geschoben.
In ihren Memoiren ("Freiheit") schrieb Merkel, Merz habe das "sehr enttäuscht" zur Kenntnis genommen. Aber es habe von Anfang an ein Problem gegeben: "Wir wollten beide Chef werden." So nüchtern Merkel hier klingt, so brutal empfand es Merz. Er war wütend, sehr wütend. Auch aus dieser Zeit stammt sein Ruf, ein emotionaler, mitunter unbeherrschter Charakter zu sein. Aber er hatte große Ambitionen: "Wer in Deutschland in die Politik geht und einigermaßen begabt ist, der muss Bundeskanzler werden wollen", schrieb Merz einmal in seinem Newsletter. Das habe ihm Wolfgang Schäuble beigebracht. Doch statt Kurs in Richtung Kanzleramt zu nehmen, sah er nur noch die Rücklichter des Merkel-Expresses.
Mit dem Mofa durch Brilon geknattert
Dabei hatte der damals 46-Jährige bis dahin eine fahrplangetreue CDU-Bilderbuchkarriere hingelegt. 1972 war er als Teenager in seinem Heimatort Brilon im Sauerland in die Partei eingetreten, einer der CDU-Hochburgen schlechthin. So korrekt wie einige Jahre später trat er da noch nicht auf: Die Haare trug er etwas länger, fuhr Mofa und rauchte. Die schulischen Leistungen waren so na ja. Einmal zog er gar an einem Joint, wie er bei ntv erzählte.
Doch einige Jahre später sind die Haare kurz, der Krawattenknoten ordentlich und die Ziele klar. Merz drängt es in die Politik. Nach Heirat, Jurastudium und Arbeit als Amtsrichter zieht er 1989 ins Europaparlament ein. Die Zeit habe ihn geprägt wie kaum eine andere, sagt er später. Doch die lautere Musik spielt in Bonn, der Bundeshauptstadt. Fünf Jahre darauf landet er ebendort, als Abgeordneter des Bundestags.
Merz' Stunde schlägt nach der CDU-Niederlage 1998 und dem Ende der Ära Helmut Kohl. Er fällt als eloquenter Experte für Finanzpolitik auf. Und als einer, der gern provoziert. Zum Beispiel mit der Forderung nach einer deutschen Leitkultur. Und als einer, der CDU pur atmet, ein konservativer und katholischer Mann der Marke: Uns gehört dieses Land. 2000 wird er Fraktionsvorsitzender. Es läuft.
Bis die ostdeutsche Frau an der Spitze der Partei ihn abserviert. Merz bleibt zunächst stellvertretender Fraktionschef, rückt dann aber immer weiter in den Hintergrund. Mit der Steuererklärung auf dem Bierdeckel erregt er 2003 noch einmal Aufsehen. Schließlich tut er aber das, was Männer wie er in solchen Fällen tun: Er geht in die Wirtschaft und verdient viel Geld.
Comeback als Gegenentwurf zu Merkel
Er übernimmt Aufsichtsratsmandate und wird schließlich Aufsichtsratschef der deutschen Filiale von Blackrock, dem weltgrößten Vermögensverwalter. Seine Gegner versuchten bis zuletzt, ihm einen Strick daraus zu drehen. Merz, der Mann der Reichen. Merz, der abgehobene Millionär. Wozu wunderbar passt, dass er ein Kleinflugzeug hat und einen Zweitwohnsitz am Tegernsee. Was weit weniger bodenständig und volksnah klingt als das heimatliche Sauerland. Aus der Zeit bei Blackrock und in anderen Unternehmen speist sich aber auch Merz' Ruf, jemand zu sein, der etwas von Wirtschaft versteht. Etwas, das gerade jetzt dringend gebraucht wird.
Es sind die Jahre, in der die Regierungszeit Merkels zu einer Ära heranwächst und der der nur ein Jahr jüngere Merz wie von gestern erscheint. Als geschlagener Rivale, als einer der westdeutschen CDU-Männer, die Merkel aus dem Weg geräumt hat. Doch nach der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 kippt die Stimmung gegen die Kanzlerin. Merz, ihr alter Rivale, das war noch CDU pur, so das Gefühl. Alles an ihm ist anders als Merkel. Westdeutsch, Mann, katholisch, Vater und Großvater. Er ist der Gegenentwurf zur Kanzlerin. Das weckt Hoffnungen.
2018 schlägt seine Stunde. Von parteiinternen Kämpfen und einer enttäuschenden Hessen-Wahl ausgelaugt, ringt sich Merkel zu einem folgenschweren Schritt durch: Den Parteivorsitz will sie abgeben, aber Kanzlerin bleiben. Obwohl sie immer gesagt hatte, beides gehöre in eine Hand. Plötzlich ist Merz wieder da, mitten in Berlin, sitzt lächelnd in der Bundespressekonferenz. "Mein Name ist Friedrich Merz", sagt er. "Mit 'e', anders als in der Einladung, die Sie bekommen haben."
Das Comeback beginnt. 16 Jahre ist der verlorene Machtkampf mit Merkel her, aber Merz sieht kaum verändert aus. Und er klingt auch wie damals. Klare, kurze Sätze. Sprechpausen mit dem typischen Ausatmen. Und stets ein bisschen von oben herab. Was nicht nur an seinen 1,98 Metern liegt. Merz hatte schon am Tag zuvor erklärt, der nächste CDU-Chef werden zu wollen. "Die CDU braucht jetzt Aufbruch und Erneuerung", diagnostiziert er vor den Journalisten.
Drei Anläufe zum Parteivorsitz
Tatsächlich haben viele nach 13 Jahren Kanzlerschaft Merkels das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wofür die Partei steht. Wehrpflicht, Atomkraft und auch die abwehrende Haltung gegenüber der Einwanderung gehörten lange zu ihrem Selbstverständnis. Merz beflügelt nicht nur die Fantasie, weil er ein Gegner Merkels war. Sondern auch, weil er aus einer Zeit zurückkommt, in der der CDU Selbstzweifel fremd waren.
Doch die Mission Parteivorsitz gestaltet sich schwierig. Drei Anläufe benötigt Merz. Erst gewinnt Annegret Kramp-Karrenbauer. Dann wird es Armin Laschet. Merz wird nicht gebraucht, danach sieht es aus. Noch im Januar 2021 steht die Union, ein Dreivierteljahr vor der Bundestagswahl, in Umfragen bei 40 Prozent. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wird für seine Ambitionen ausgelacht. Doch am Ende setzt er sich durch und wird mit Hilfe der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene Nachfolger Merkels. Laschet zieht sich zurück und wieder sucht die CDU einen neuen Chef. Diesmal gewinnt Merz souverän, seine Gegner Helge Braun und Norbert Röttgen sind chancenlos.
Doch wer gehofft hat, die CDU kehre nun mit Volldampf in die 1990er Jahre zurück, wird enttäuscht. Äußerlich mag Merz sich kaum verändert haben, innerlich aber schon. Er sinniert über neue Koalitionspartner. Schwarz-Grün sitze in vielen bürgerlichen Familien doch schon am Frühstückstisch, sagt er dem "Spiegel". Soziale Gerechtigkeit nennt er als wichtigstes Thema.
In der Partei gibt er beim späteren Generalsekretär Carsten Linnemann ein neues Grundsatzprogramm in Auftrag. Schon der Prozess haucht der CDU neues Leben ein, bringt sie in etlichen Arbeitsgruppen zusammen und lässt sie diskutieren. Merz übernimmt selbst neben dem Partei- auch den Fraktionsvorsitz, so wie einst Merkel. Im Hier und Jetzt braucht Merz als Oppositionsführer die Bühne im Bundestag. Und er nutzt sie. Nach den GroKo-Jahren wird wieder gestritten im Plenum. Die Duelle zwischen Scholz und Merz haben Unterhaltungswert. Merz erzählt gern, die Leute sprächen ihn darauf an. Es mache wieder Spaß, Bundestagsdebatten zu gucken. Eines der schönsten Komplimente sei das, meint er. Inhaltlich bricht die Partei mit der Migrationspolitik Merkels und nennt das "Humanität und Ordnung".
Er wird ein Kanzler wie kein anderer
Merz wirkt nun weniger wie ein arroganter Karrierist. Sondern eher wie ein heimatverbundener Vater und Großvater aus dem Sauerland, der auf seine Art das Beste für das Land und die AfD halbieren will. Aber ist das das ganze Bild? Zweifel daran gibt es schon. Der "Spiegel" stellt Merz in einer unvorteilhaften Titelgeschichte als emotional instabilen Choleriker dar, Subtext: Er kann's nicht. Seine Bemerkungen zu "kleinen Paschas" oder Zahnarztterminen für Asylbewerber seien Belege für Unbeherrschtheiten.
Aber Merz hat es geschafft, die CDU zu einen und zu einer schlagkräftigen Truppe zu machen. Sie steht geschlossen hinter ihm. Die mit Spannung erwarteten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg verlaufen aus CDU-Sicht erfolgreich bis glimpflich. Nach CSU-Chef Markus Söder ruft im Herbst 2024 jedenfalls niemand als Kanzlerkandidat, anders als noch drei Jahre zuvor. So lässt der Bayer Merz schließlich den Vortritt und sagt: "Ich bin fein damit."
Besonders beliebt ist Merz allerdings nicht. Weder im Land noch in den eigenen Reihen, weder vor der Wahl noch danach. 62 Prozent der Deutschen glauben, dass Merz in erster Linie in die aktive Politik zurückgekehrt ist, weil er zeigen wollte, dass er eine bessere Politik macht als Merkel. Dass Merz das Land besser regieren wird als die Altkanzlerin, glauben allerdings nur 18 Prozent. Die Grundgesetzänderungen zu Schuldenbremse und Sondervermögen haben seiner Glaubwürdigkeit auch nicht geholfen.
Aber Umfragen können sich drehen, darauf wird Merz setzen. Jetzt wird er Kanzler. Mit ihm bekommt die Bundesrepublik einen Regierungschef, wie sie ihn noch nie hatte. Noch nie war ein Kanzler so lange raus aus der aktiven Politik. Noch nie gab es einen Bundeskanzler, der keine Regierungserfahrung hatte. Nicht als Bürgermeister, Ministerpräsident oder Minister. Noch nie seit Adenauer war ein Kanzler bei Amtsantritt so alt wie er. Aber eines ist klar: Durchhaltevermögen hat dieser Mann. Eine Eigenschaft, die er noch brauchen wird.
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