Estland will direkt an der Grenze zu Russland eine neue Militärbasis bauen. In der Stadt, wo Kremlchef Putin eines Tages die Nato herausfordern könnte, weil er sie als russisch ansieht. Kaum eine andere Stadt in der EU ist so unmittelbar durch Russland bedroht wie Narva.
In Narva ist Russland so nah wie sonst nirgendwo in der Europäischen Union. Nur eine Brücke über den Narva-Fluss trennt die drittgrößte Stadt Estlands von Iwangorod in Russland. Es ist die "Brücke der Freundschaft". Ausgerechnet dieses Nadelöhr ist der Grund, weshalb das kleine baltische Land besonders viel Geld in seine Verteidigung investiert. Hier in Narva, so befürchtet Estland, könnten eines Tages die Russen angreifen. Unter dem Vorwand, die russische Minderheit auf der anderen Seite des Flusses beschützen zu wollen.
Deshalb rüstet Estland weiter auf - und baut eine neue Militärbasis. Möglichst nah an der Grenze zu Russland, direkt in Narva, soll die neue Basis entstehen. Es soll sich demnach um einen kleinen Standort handeln - für 200 bis 250 Soldaten, die abwechselnd in Narva stationiert werden sollen, hat der estnische Generalmajor Vahur Karus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Estlands gesagt. Geplant ist, dass am neuen Standort auch Einheiten von anderen Nato-Truppen stationiert werden - zum Beispiel Briten und Amerikaner, die schon jetzt in Estland präsent sind.
Wo genau der Stützpunkt aufgebaut werden soll, ist noch nicht entschieden. Das Verteidigungsministerium sucht noch nach einem möglich zentrumsnahen Standort. "Die Idee ist, dass der Standort ein normaler Teil des täglichen Lebens in Narva wird", wird Karus zitiert.
Narva? "Ganz klar eine estnische Stadt"
Soldaten sind in der Stadt schon seit fast drei Jahren präsent - nachdem Russland im Februar 2022 seinen Großangriff auf die Ukraine gestartet hat. Die estnische Regierung will mit der Militärbasis die Präsenz der Soldaten "normalisieren, um den Einwohnern von Narva eine Garantie zu geben, dass wir hier sind", so Karus. Gegenüber Russland will Estland mit der neuen Militärbasis signalisieren, dass Narva "ganz klar eine estnische Stadt ist".
Wladimir Putin stellt genau das infrage. Der Kremlchef erwähnte Narva 2022 in einer Rede zum 350. Geburtstag von Zar Peter dem Großen. Der Herrscher hatte die estnische Stadt bei seinem Nordeuropa-Feldzug erobert und ins russische Reich eingegliedert. Oder "zurückgewonnen", wie Putin behauptet - und auf die große russische Minderheit in Narva verweist.
Tatsächlich stammen fast alle Einwohner Narvas aus Russland. Sie wurden 1944 während der zweiten sowjetischen Besetzung angesiedelt. Für Putin könnte das ein gefundenes Fressen sein - die Ukraine-Invasion hat der Kremlchef bekanntlich unter anderem auch mit den aus seiner Sicht unterdrückten Russen in der Ukraine begründet.
"Dann wäre die Nato tot"
Für den Militärexperten Carlo Masala ist Narva die am stärksten durch Russland bedrohte Stadt innerhalb der Nato. Dort könnte Wladimir Putin austesten, ob die Nato-Mitglieder im Angriffsfall Beistand leisten, hat Masala im ntv-Salon Mitte April gesagt. "Letzten Endes ist die Entscheidung in meinem fiktiven Szenario folgende: Riskieren wir wegen der Befreiung einer 50.000-Einwohner-Stadt einen vollumfänglichen Konflikt gegen möglicherweise 1,5 Millionen russische Soldaten, der dann immer an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg ist?"
Artikel 5 der Nato-Charta besagt: Wenn ein Mitgliedsland angegriffen wird, wird das als Angriff auf alle Mitgliedstaaten gewertet. Alle Nato-Länder sind in einem solchen Fall verpflichtet, das angegriffene Land zu unterstützen. Sollte die Nato bei einem russischen Angriff nicht reagieren, "wäre die Nato tot", ist Masala überzeugt.
"Wann reagieren wir?"
Narva ist eine kleine Stadt und im riesigen Nato-Gebiet nur ein winziger Fleck auf der Landkarte. Aber es geht ums Prinzip, um Artikel 5, den Putin zum Einsturz bringen könnte, sollte die Nato im Falle eines Angriffs auf Narva nicht gemäß der eigenen Richtlinien reagieren.
"Die Frage ist: Wann reagieren wir? Wo ist die Schwelle? Dass wir diese Diskussion führen, kriegt Russland natürlich mit. Und es gibt viele Indizien, dass Russland uns als schwach empfindet", sagte Militärhistoriker Sönke Neitzel im ntv-Salon. "Im Nato-Hauptquartier macht man sich diese Gedanken auch."
Wie sich die Nato gegen einen möglichen Angriff auf ihr eigenes Territorium wehrt, entscheidet am Ende der Nato-Rat in Brüssel.
Verteidigungsausgaben über drei Prozent des BIP
In der Narva-Frage sind sich nicht alle Mitgliedstaaten einig. Ob Ungarn mit Premierminister Viktor Orbán einem Gegenschlag zustimmen würde, ist fraglich. Bei der Slowakei mit dem russlandfreundlichen Regierungschef Robert Fico sieht es ähnlich aus. Und die USA mit Präsident Donald Trump sind auch kein Partner mehr, auf den die Europäer blind vertrauen können.
Das kleine Estland macht derzeit alles, was militärisch möglich ist. Hat seine Verteidigungsausgaben in den vergangenen Jahren verdoppelt - und ist längst über dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato; mittlerweile liegt Estland sogar bei über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das kleine Land verstärkt seine 300 Kilometer lange Grenze zu Russland und will hunderte Drohnenabwehrsysteme und Bunker entlang der Grenze bauen. Für den Ernstfall - falls Putins Truppen eines Tages über die Brücke von Iwangorod nach Narva einmarschieren.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke