Die Hiobsbotschaften aus dem Bildungsbereich reißen nicht ab. Seit mehr als einem Jahrzehnt sinken die Leistungen deutscher Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Waren sie nach dem Pisa-Schock zu Beginn des Jahrtausends zunächst zehn Jahre lang besser geworden, ging bis 2019 ein Großteil des Zugewinns wieder verloren. Und seit der Corona-Zeit sind die Schülerleistungen geradezu eingebrochen.
In der Pisa-Studie gingen die Mathematik-Leistungen in einer Größenordnung zurück, die in etwa der Lernleistung eines kompletten Schuljahres entsprechen – und sie liegen inzwischen unter dem Ausgangsniveau von Pisa 2000. Wirtschafts- und Bildungsforscher weisen immer wieder darauf hin, wie schädlich der Verfall der Bildungsleistungen für den Wirtschaftsstandort sei.
Jetzt haben das Münchner Ifo-Institut und die Bertelsmann-Stiftung den Blickwinkel umgekehrt und sozusagen die optimistische Sichtweise gewählt: Was, wenn es gelänge, den Verfall zu stoppen? Wie würde sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) verändern, wenn es glückte, die Leistungen der Schüler – und damit der Arbeitnehmer von morgen – auf breiter Front zu verbessern? Das Ergebnis der Projektion: Eine Steigerung der Leistungen in den Basiskompetenzen Deutsch und Mathematik in der Breite wie in der Spitze würde nicht nur die Chancen für Millionen von Schülern verbessern – sondern über die kommenden 80 Jahre hinweg auch das BIP deutlich ansteigen lassen.
Den Berechnungen zufolge würden bessere Bildungsleistungen dieses bis zum Jahr 2105 um insgesamt rund 20,9 Billionen Euro zusätzlich wachsen lassen. Das entspricht ungefähr dem fünffachen Wert des derzeitigen Gesamt-BIP der Bundesrepublik. Besonders profitieren würden laut dieser Prognose die Bundesländer, die im Vergleich der Schülerleistungen aktuell schlecht abschneiden. „Bildung bedeutet Wohlstand und Zuversicht. Diese volkswirtschaftliche Dimension wird politisch oft unterschätzt“, sagte Dirk Zorn, Direktor des Programms „Bildung und Next Generation“ der Bertelsmann-Stiftung.
Als Richtwert für die vom Münchner Ifo-Institut für Bildungsökonomik vorgenommene Projektion dienen die sogenannten Bildungsziele 2035. Unter dem Titel „Bessere Bildung 2035“ hatten die drei Landesbildungsministerinnen Karin Prien (CDU) aus Schleswig-Holstein – heute Bundesbildungsministerin –, Stefanie Hubig (SPD) aus Rheinland-Pfalz – heute Bundesjustizministerin – und Theresa Schopper (Grüne) aus Baden-Württemberg Anfang 2025 einen parteiübergreifenden Impuls für messbare Bildungsziele formuliert. Ihre Vision: Binnen zehn Jahren sollte der Anteil der Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreichen, halbiert werden; die Zahl der Schüler, die die Regelstandards erreichen, soll um 20 Prozent erhöht werden, und die Zahl derjenigen, die die Optimalstandards erreichen, um 30 Prozent.
Im Fach Mathematik würde das bedeuten, dass der Anteil der Viertklässler, die den Mindeststandard nicht erreichen, deutschlandweit von 21,8 Prozent auf 10,9 Prozent halbiert würde. Der Anteil der Schüler, die die Regelstandards erreichen, würde von 54,8 auf 65,8 Prozent steigen, die Leistungsspitze würde von 10,5 auf 13,7 Prozent erhöht.
„Bildungsminimum absichern, Bildungsniveau steigern, Leistungsspitze fördern – wenn es gelingt, diese drei Ziele zu erreichen, würde das durchschnittliche Kompetenzniveau bis 2035 bundesweit um rund 32 PISA-Punkte steigen – das entspricht etwa einem zusätzlichen Lernjahr“, so Ludger Wößmann, Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik. Eine Verbesserung, die sich im Verlauf des Lebens der heutigen Schüler und künftigen Arbeitskräfte auch volkswirtschaftlich niederschlagen würde, wie Wößmann in seiner Modellrechnung zeigt.
Er verwies dabei auf einen „sehr starken positiven Zusammenhang“ zwischen Bildungsleistung und Wirtschaftswachstum. „Länder, die eine höher gebildete Bevölkerung haben, sind langfristig wesentlich schneller gewachsen als die Länder mit einer schlecht ausgebildeten Bevölkerung“, so Wößmann. „Insgesamt kann dieses einfache Modell mehr als drei Viertel der internationalen Unterschiede in den langfristigen volkswirtschaftlichen Wachstumsraten erklären.“ Die Bildungsleistung der Bevölkerung sei mithin der „entscheidende Faktor, warum einige Länder reich geworden sind und andere arm bleiben“.
Maßgeblich sei dabei allerdings nicht allein die Länge des Schulbesuchs – sondern die konkret erworbenen Kompetenzen. Für den Wachstumseffekt seien vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen seien gut ausgebildete Arbeitskräfte produktiver, zum anderen innovativer, so Wößmann. „Besser gebildete Erwerbstätige bringen wesentlich mehr Ideen ein. Und Ideen sind die Grundlage für technologischen Fortschritt.“
Bis sich dieser Effekt bezahlt machen könnte, brauche es allerdings einen langen Atem, denn schließlich müssten jetzige und künftige Schülergenerationen erst einmal auf dem Arbeitsmarkt ankommen. Langfristig allerdings würden die Effekte immer größer, so Wößmann. Bis 2075 läge der Zuwachs für das BIP daher bei etwa 6,7 Billionen Euro. Von da an würde der Wert exponentiell ansteigen, bis im Jahr 2105 ein Zuwachs von fast 21 Billionen Euro erreicht wäre.
Besonders große Effekte ließen sich der Berechnung zufolge in den Bundesländern erreichen, die derzeit im Leistungsvergleich am schlechtesten abschneiden: Bremen würde die Wirtschaftskraft um das 7,6-Fache steigern können, Berlin um das 6,4-Fache.
Abstieg Deutschlands sei „kein Schicksal“
„Diese Zahlen sollten Ansporn sein, die Verbesserung der Bildungsleistungen entschlossen und mit hoher Priorität voranzutreiben“, sagte Zorn. „In einer Zeit, in der ein wachsender Anteil von Menschen in der deutschen Bevölkerung nicht mehr dem Glauben anhängt, dass ihre Kinder es mal besser haben werden als sie selbst, wollen wir mit unserer Studie auch ein emotionales Signal setzen: Man kann etwas tun.“ Der vermeintliche Abstieg Deutschlands als Wirtschaftsstandort sei „kein Schicksal“, so Zorn. „Man kann den Trend verändern.“
Dazu brauche es jetzt eine „gemeinsame bildungspolitische Kraftanstrengung von Bund, Ländern, Wissenschaft und Schulpraxis“. Neben klar priorisierten gemeinsamen Zielen gehe es vor allem darum, wie wirksame Veränderungen gelingen können. „Die Studie selbst liefert aus meiner Sicht sehr überzeugende ökonomische Gründe dafür, diese nationale Kraftanstrengung auch wirklich anzugehen. Aber sie ist natürlich noch nicht die Roadmap dafür, wie es gelingen kann“, schränkte Zorn ein.
Derzeit herrsche in den Ländern vielfach „ein kollektives Gefühl von fehlender Wirksamkeit, weil viele Reformmaßnahmen, die versucht wurden, letztlich keine Trendwende bewirkt haben“. Impulse will die Bertelsmann-Stiftung unter anderem mit ihrem neuen Projekt „Change Learning“ setzen. Ziel sei es dabei, gezielt Erkenntnisse aus Ländern zu nutzen, die unter ähnlichen Voraussetzungen eine Trendwende bei der Entwicklung der Schülerleistung hinbekommen haben. „Diese Erkenntnisse wollen wir jetzt in Deutschland einspeisen“, so Zorn.
Eine Alternative zu einer ernst gemeinten gemeinsamen Kraftanstrengung sehen die Forscher jedenfalls nicht. Denn der mögliche positive Trend, der in der Studie aufgezeigt werde, gelte umgekehrt natürlich genauso, gestand Wößmann ein. „Wenn wir es nicht schaffen, den Negativtrend umzudrehen, wird uns in der gleichen Größenordnung Wirtschaftskraft verloren gehen.“
Sabine Menkens berichtet über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
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