Die Bauruine ohne Fenster steht schon seit vielen Jahren leer. Eigentlich ist das heruntergekommene Gebäude im nordsyrischen Kamischli unbewohnbar. Trotzdem lebt die achtköpfige Familie Hamdan dort seit sieben Monaten in einer der Erdgeschosswohnungen. Statt einer Tür hängt eine Decke vor dem Eingang.
Durch das vergitterte Küchenfenster kommen Verlängerungskabel, die Strom von draußen bringen. Etwas anderes könnten sie sich nicht leisten, sagen Vater Samir und Sohn Bilal. „Von einem Tag auf den anderen“ seien sie aus ihrem Dorf in der Nähe von Homs geflohen.
Seit April leben sie nun in Nordostsyrien unter der kurdisch dominierten Verwaltung. Dort sind sie zumindest vor gewalttätigen Übergriffen regierungsnaher Milizen sicher. „Das ist das Wichtigste“, sagt der 59-jährige Samir. Die Familie gehört der Minderheit der Alawiten an – genau wie der frühere Diktator Baschar al-Assad.
Drei Monate nach Assads Sturz war es zu Massakern an der alawitischen Bevölkerung entlang der Mittelmeerküste gekommen. Mit der neuen Regierung von Präsident Ahmed al-Scharaa verbündete Milizen sollen mindestens 1500 Menschen ermordet haben. Wenige Wochen später traf es die alawitischen Dörfer in der Umgebung von Homs. „Sie haben unser Haus geplündert, unsere Autos gestohlen, Nachbarn verschleppt und ermordet“, erzählt Familie Hamdan.
An eine Rückkehr ist bis heute nicht zu denken, täglich kommen Berichte neuer Gräuel. „Ich habe gehört, Deutschland will syrische Flüchtlinge zurückschicken“, sagt der 32-jährige Bilal plötzlich – und appelliert: „Liebe Landsleute, ich versichere euch, kommt nicht zurück, Syrien ist kein sicheres Land.“
Eine Botschaft, die in Berlin nicht gut ankommen dürfte. „Der Bürgerkrieg in Syrien ist beendet. Es gibt jetzt keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland, und deswegen können wir auch mit Rückführungen beginnen“, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) diese Woche erklärt. Doch so einfach ist es nicht. Nicht nur, dass die syrische Wirtschaft am Boden liegt, es kaum Wohnraum gibt, die Infrastruktur vielerorts zerstört ist: Unter der Oberfläche brodelt es, Gewalt ist an der Tagesordnung.
Mit dem Sturz des Assad-Regimes ist zwar der Bürgerkrieg auf dem Papier zu Ende, doch befriedet ist Syrien noch lange nicht. Islamistische Milizen führen weiter Krieg, insbesondere gegen Minderheiten: Alawiten, Drusen, Kurden und auch Christen. Dabei hatte al-Scharaa versprochen, sie zu schützen. Im Juli versuchte die „neue syrische Armee“ die hauptsächlich von Drusen bewohnte Provinz Suweida zu stürmen. Mehr als 1000 Menschen sollen getötet worden sein.
Zudem greifen Soldaten immer wieder das Gebiet der autonomen Verwaltung in Nordostsyrien an, die rund ein Drittel des Landes kontrolliert. Die Region besteht auf einem föderalen System, Damaskus will einen Zentralstaat. „Wir führen derzeit Verhandlungen mit der Regierung, aber man weiß bisher nicht, ob sie es wirklich ernst meint“, sagt Hareb Barsoum.
Der christliche Politiker ist Teil des siebenköpfigen Verhandlungsteams der autonomen Region. Im Mittelpunkt steht die Integration des Militärbündnisses Syrische Demokratische Kräfte (SDF) in die Armee. Man habe sich zwar geeinigt, dass die SDF als eigenständiger militärischer Block aufgenommen werde, sagt Barsoum. Offiziell hat Damaskus dazu aber nichts bekannt gegeben. „Das ist ihre Strategie, die Verhandlungen so weit wie möglich hinauszuzögern und ohne eine verbindliche Zusage“, so der Politiker. „So können sie jederzeit alles widerrufen.“
Danach berichtet Barsoum von Menschenrechtsverletzungen gegen die christliche Bevölkerung. In einem Bericht, der WELT AM SONNTAG vorliegt, sind Dutzende Fälle von Tötungen, Kidnapping und Misshandlungen von Christen sowie Brandstiftung in christlichen Einrichtungen, Plünderungen und willkürlichen Verhaftungen dokumentiert. Die Regierung unternehme nichts gegen den Terror, sagt Barsoum.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen würden Christen nicht in die staatlichen Sicherheitskräfte aufgenommen, „aber eigene lokale Schutzeinheiten dürfen wir nicht aufstellen“, sagt er. Deutschland solle lieber Druck auf Damaskus ausüben, auf die Sicherheit der Minoritäten und demokratische Verhältnisse pochen – erst anschließend über Rückführungen sprechen. „Dann werden die meisten auch freiwillig kommen“, versichert Barsoum.
So sieht das auch Avin Juma von der unabhängigen „Menschenrechtsorganisation für Syrien“, die 2013 in Kamischli gegründet wurde. Man habe mehr als 500 Menschenrechtsverstöße durch die neue Regierung festgestellt, sagt die 47-Jährige. „Mehr als 80 Frauen sind scheinbar verschwunden, viele als Sklavinnen, wobei die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte.“
Die Fälle seien so zahlreich, dass man fast von einer Systematik sprechen müsse. „In welchem Land leben wir, dass ich als Kurdin auf geheimen Wegen nach Damaskus reisen muss, um einen neuen Pass zu beantragen, weil ich sonst möglicherweise nicht mehr nach Hause zurückkomme?“
Die Verbrechen würden sich in erster Linie gegen Minderheiten richten, sagt die Aktivistin. Schätzungen zufolge zählt jedoch mindestens ein Drittel der Bevölkerung zu einer Minderheit. Wenn Deutschland also Syrer zurückschicke, liefen viele von ihnen in Gefahr, „im Gefängnis zu landen, gefoltert zu werden und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden“, sagt Juma.
Auch sie fordert daher, Berlin solle mehr zur Stabilisierung des Landes beitragen, bevor es Syrer abschiebt. „Ich habe gelesen, Kriminelle sollen zuerst abgeschoben werden“, fügt sie hinzu. In den Gefängnissen Nordostsyriens säßen Hunderte Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat aus Deutschland und anderen westlichen Staaten. Juma fordert: „Geht mit gutem Beispiel voran und holt erst eure Kriminellen zurück, bevor ihr verurteilte Syrer abschiebt.“
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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