Bodo Ramelow, 69, ist Bundestagsvizepräsident. Der Linke-Politiker war mit kurzer Unterbrechung von 2014 bis 2024 Ministerpräsident von Thüringen. Im Februar 2025 zog er in den Bundestag ein. Kürzlich hielt er bei einer Preisverleihung in Jerusalem eine Laudatio auf vier muslimische Beduinen, die während des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 rund 40 Israelis das Leben gerettet hatten, indem sie diese aus der Gefahrenzone evakuierten. Dafür wurden Ismail, Rafi, Chamad und Dahesch Alkrenawi als „größte zivile Lebensretter“ ausgezeichnet.
WELT: Sie haben am Sonntag in der Benediktiner Abtei Dormitio in Jerusalem die Laudatio auf die Preisträger des Mount Zion Award gehalten. Eher eine ungewöhnliche Sache für einen deutschen Politiker der Linken?
Bodo Ramelow: Mich hat die Anfrage sehr überrascht und tief berührt. Israel stand gar nicht auf meiner Reiseliste, aber die Benediktinergemeinschaft und der Mount Zion Award sind beeindruckend – es hat mich direkt angesprochen. Die größte Herausforderung war, alle Termine so zu koordinieren, dass es möglich ist, zumal sich die Laudatio mit meiner Pilgerreise und der Generalaudienz bei Papst Leo XIV. überschnitt. Ich habe alles andere spontan abgesagt, gemeinsam mit meiner Frau und meinem Team das ermöglicht, weil es mich innerlich bewegte.
WELT: Was beeindruckt Sie an den Preisträgern am meisten?
Ramelow: Mich beeindruckt vor allem ihr ausgleichendes Handeln und ihr übergreifendes Engagement – egal ob die jüdische Professorin (die ebenfalls ausgezeichnete Historikerin Karma Ben-Johanan, d. Red.) oder die vier Beduinen. Insbesondere, dass die vier Cousins, die Muslime und Beduinen sind, sich spontan selbst in Gefahr begeben haben, zeigt: Wir sind Menschen, unabhängig von Kategorie oder Religion. Für mich zählt das Verbindende, die Kraftquelle, die Menschen antreibt.
Ich bin evangelischer Christ, aber glaube an einen universellen Gott, der über konfessionelle Grenzen hinausgeht. Ich fühle mich mit Menschen anderer Religionen verbunden, weil uns ähnliche spirituelle Quellen leiten. In Jerusalem berühren sich die abrahamitischen Religionen, und ich fühle das mögliche Miteinander, und jede Form des Gegeneinanders ist eine Katastrophe, der man sich aktiv entgegenstellen muss. Der Zionsberg steht hier als Symbol für den christlichen Friedensaspekt – und die Botschaft von Jesus ist darin universell.
WELT: Was denken Sie über Menschen, die ihr Leben für andere riskieren?
Ramelow: Ich stelle mir bei solchen Geschichten immer wieder die Frage: Wie würde ich selbst reagieren, wenn ich in einer solchen Situation wäre? Helfen ist nichts Theoretisches, keine digital abrufbare Handlung, sondern passiert konkret und spontan. Ich habe im eigenen Leben erlebt, wie sich praktische Hilfe anfühlt, oft anders, als man es später im Nachdenken bewerten würde.
Die vier Beduinen setzten sich in ihren Pick-up, wohl wissend, dass sie ins Feuer geraten könnten – und sie halfen trotzdem. Auch die Gefahr, von der IDF (Israels Militär, d. Red.) verwechselt zu werden, haben sie bewusst in Kauf genommen. Das ist echte Zivilcourage und ein beeindruckendes Beispiel, wie wahrer Mut immer ganz praktisch und gefährlich ist.
WELT: Sind Helden heute noch zeitgemäß?
Ramelow: Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zum Begriff „Helden“. Oft wird damit eine überhöhte Aura geschaffen, die den eigentlichen Menschen dahinter verdeckt. Bei den vier Cousins bewundere ich die konkrete Menschlichkeit – die Entscheidung, in einer Extremsituation zu helfen, ohne aus Kalkül oder Überlegung, sondern aus zutiefst menschlichem Impuls. Ich bin dankbar für jede Person, die angesichts solcher Gewalt nicht wegschaut, sondern hilft. Trotz aller Skepsis gegenüber Heldenverehrung verdienen sie tiefen Respekt.
WELT: Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube, besonders als Politiker in einer säkularer werdenden Gesellschaft?
Ramelow: Mein persönlicher Glaube trägt mich, ist aber keine Monstranz, die ich demonstrativ vor mir hertrage. Ich habe meine Überzeugungen nie verborgen, aber auch nie benutzt, um Vorteile zu erlangen. Während meiner Zeit als Gewerkschaftssekretär hat das niemand interessiert. Erst als Politiker in der PDS begegnete mir Skepsis – sowohl aus kirchlichen als auch aus parteiinternen Kreisen. Das führte dazu, dass ich bewusster offen mit meinem Glauben umgehe, aber immer klar unterscheide: Religiöse Termine wie Gottesdienste sind privat. Ich lasse mich nicht in der Kirche fotografieren und mache keinen Wahlkampf im Sakralraum.
WELT: Wie erleben Sie das Verhältnis der drei großen monotheistischen Religionen in Deutschland heute?
Ramelow: Ich setze mich konsequent dafür ein, dass jede und jeder seinen Glauben sichtbar leben darf. Das Recht auf das Kopftuch, wenn es aus freiem Wunsch getragen wird, steht für mich ebenso wie das Recht auf das Tragen eines Habits (katholische Ordenstracht, d. Red.) oder einer Kippa. Besonders erschüttert mich, wenn jüdische Kinder wegen Mobbings die Schule verlassen müssen. Der Umgang mit Minderheiten ist ein Lackmustest für die Offenheit und Humanität unserer Gesellschaft.
WELT: Ist eine höhere Instanz in Zeiten, in denen der Mensch scheinbar alles beherrscht, noch zeitgemäß?
Ramelow: Unbedingt. Gerade weil technologische Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz das Feld menschlicher Gestaltungsmacht enorm ausweiten, wächst die Sehnsucht danach, dass es auch etwas gibt, das größer als unser eigenes Vorstellungsvermögen ist. Ich habe in meinem Leben oft Situationen erlebt, die sich rational nicht erklären lassen und die mir wie kleine Wunder erscheinen. Das Vertrauen darauf, dass es mehr gibt, als man begreifen kann, gibt Halt und verbindet über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg.
WELT: Was bedeutet Ihnen Jerusalem?
Ramelow: Jerusalem ist für mich ein einzigartiger Ort, weil er die Universalität der abrahamitischen Religionen symbolisiert – vom Felsendom über die Klagemauer bis zur Grabeskirche. Gerade in der Kirche des Heiligen Grabes wird für mich deutlich, wie eng die Religionen physisch und emotional miteinander verbunden sind. Es fasziniert mich, dass der Schlüssel zur Grabeskirche von einer muslimischen Familie verwaltet wird – ein schönes Symbol des Miteinanders.
Und diejenigen, die andere zwingen wollen, ihren Glauben aufzwingen wollen, mit Gewalt oder mit totalitären Mitteln, die versündigen sich an der Universalität des Glaubens. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem das sichtbarer ist als in Jerusalem.
Martin Lengemann ist Fotograf und Autor bei WELT.
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