Hinweis: Dieser Artikel enthält ein Video, Fotos und Beschreibungen, die physische Gewalt und Menschen in Extremsituationen zeigen; sie dienen Dokumentationszwecken.
Das Unheil kündigt sich in dieser bitterkalten Oktobernacht mit einem Rauschen an, es klingt, als rase ein Auto auf uns zu. Das kann nicht sein. Hier, im Nirgendwo, auf einer weiten Wiese in der Region Dnipro nahe der Grenze zu Donezk, gibt es keine Straße. Auf der Wiese stehen drei ukrainische Soldaten neben einem Militärlastwagen, auf dessen Ladefläche eine doppelläufige Flugabwehrkanone SU-23 montiert ist. Drei Männer einer mobilen Feuereinheit der 42. Brigade – Konstantin, Ihor und Oleksij.
Sie sind – wie an zahllosen Tagen zuvor – im Einsatz, um Langstreckendrohnen abzuschießen, mit denen Russland ukrainische Städte angreift. Und wir sind hier, ein dreiköpfiges Reporterteam der WELT, um die drei in dieser Nacht mit der Kamera zu begleiten. Es ist kurz nach halb zehn, als das Auto heranrast, das keines ist.
In Sekunden wird das Heranrauschen zum Donnerschlag. Die Druckwelle des Einschlags einer russischen Lancet-Drohne in den Militärlastwagen reißt uns alle um. Ich stürze zu Boden. Höre nur noch Schreie, auf Ukrainisch, auf Englisch – sie sind auf den Aufnahmen von Kameramann Viktor Lysenko festgehalten.
„Ahhhhhhhhhhhhhhh!“
„Oh mein Gott!“
„Fuck! Fuck! Fuck!“
„Lebst du? Ibra!“
„Zu den Bäumen! Zu den Bäumen!“
„Mein Bein, mein Bein!“
„Komm auf meine Schulter!“
Vor dem Militärlastwagen, der in Flammen steht, liegt ein Mann regungslos am Boden.
Viereinhalb Stunden zuvor.
Wir fahren in hohem Tempo über eine Landstraße östlich der Großstadt Pawlohrad in Richtung Drehort. Abschnitte der Straße, teils Hunderte Meter lang, sind mit Netzen überspannt. Sie sollen Schutz bieten vor russischen Kamikaze-Drohnen, die sich selbst Ziele suchen, um sich darauf zu stürzen – Dutzende Kilometer von der Frontlinie entfernt. Vor uns fährt ein Geländewagen, auf dem Dach Anti-Drohnentechnologie, an den Seiten ein Schutzkäfig gegen die höllischen Fluggeräte.
In der Ukraine hat sich das, was einst Frontlinie genannt wurde, längst in eine rasant wachsende Todeszone verwandelt. Es sind Gebiete, bis zu 20 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt, die permanent einer hohen Angriffsgefahr ausgesetzt sind, weil Kamikaze-Drohnen so billig sind, wenige hundert Euro kosten, und daher massiv eingesetzt werden.
Die Armeen beider Seiten jagen diese tödlichen Waffen aber auch über Entfernungen von mehr als 50 Kilometern, wenn das Ziel nur hochwertig genug ist – etwa Kommandoposten und Flugabwehrsysteme. Hierbei kommen modifizierte und teurere Kampfdrohnen wie die russische Lancet zum Einsatz.
Drohnen sind in diesem Krieg nicht nur tödliche, sondern auch psychologische Waffen. Das Surren der fliegenden „Mopeds“, wie russische Langstreckendrohnen vom Typ Shahed in der Ukraine genannt werden, löst in Städten wie Kiew Angst aus. Bis zu 800 dieser drei Meter langen Kamikaze-Fluggeräte – und ihrer unbewaffneten Attrappen – setzt Moskau jeden Tag ein, um die Bevölkerung im ganzen Land zu terrorisieren.
Um die Horden zu bekämpfen, hat die ukrainische Armee landesweit mobile Feuereinheiten aufgestellt. Rechts und links der Straße, auf Feldern und Brücken, immer wieder sehen wir auf unserer Fahrt solche Besatzungen. Manchmal sind es nur Geländewagen, auf deren Ladefläche ein Maschinengewehr montiert ist. Als in der Abenddämmerung eines dieser Teams das Feuer eröffnet, weil unüberhörbar eine russische Shahed-Drohne über das Gebiet fliegt, zucken wir im Auto zusammen.
Als wir gegen 20 Uhr an der Wiese im Nirgendwo ankommen, etwa 30 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt, ist es dunkel. Wir parken das Auto verdeckt in einer nahegelegenen Baumreihe. Als Reporter tragen wir leuchtende „Presse“-Aufschriften am Helm und an der Schutzweste. Die drei Ukrainer der mobilen Feuereinheit – Konstantin, Ihor und Oleksij – sind bereits bei der Arbeit. Wir laufen zu ihnen auf die Wiese.
Auf der Rückseite des Militärlastwagens steht Konstantin und sucht den Horizont ab. „Ich beobachte den Himmel und erkenne Ziele mit diesem Wärmebildgerät“, erklärt er uns. Ziele, das sind vor allem russische Kampfdrohnen vom Typ Shahed und Geran – sie überfliegen diesen Frontabschnitt häufig –, aber auch Orlan-Aufklärungsdrohnen. Ihre Arbeit finde in Echtzeit statt, sagt der 48-Jährige. „Manchmal haben wir nur ein paar Sekunden, um zu reagieren.“
Vor Russlands Angriff auf die gesamte Ukraine arbeitete Konstantin bei der ukrainischen Eisenbahn. Im ersten Kriegsjahr wurde er Soldat, erhielt eine Grundausbildung bei der Flugabwehr – speziell an einer 23-Millimeter-Maschinenkanone vom Typ SU-23. Schon sein Vater hatte dem Land gedient, war Berufsoffizier in der ukrainischen Armee.
Auf dem Wagen neben dem Maschinengewehr steht Igor. Seit dem Sommer 2024 dient er in der mobilen Feuereinheit. Zuvor verdiente der 49-Jährige sein Geld auf dem Bau.
Ihre Arbeit sei hart, sagt er, denn die russischen Drohnen änderten ständig ihre Routen und Flughöhen, um die Verteidiger zu verwirren. Sei das Ziel nah genug, bleibe ihnen Zeit für etwa zehn Schüsse, um es zu zerstören. Flögen die Shaheds jedoch mehrere Kilometer über ihnen, seien sie außer Reichweite.
Darum setzt die ukrainische Armee auch Helikopter und Abfangdrohnen ein, um die russischen Kampfdrohnen zu stoppen. „Ich verteidige mein Heimatland, damit unsere Städte weniger bombardiert werden. Damit die Shaheds keine Menschen treffen, stehen wir hier und fangen sie ab“, sagt Igor.
Auf einem Monitor neben dem Maschinengewehr beobachten die Soldaten, ob sich Flugobjekte in ihrem Gebiet aufhalten. Sie bekämen auch Informationen anderer Teams in der Umgebung und nutzten spezielle Software zur Zielerkennung, erklärt Konstantin. „Macht euch bereit“, ruft kurz danach Oleksij, als sich eine Drohne am Himmel nähert. Gegen viertel vor neun donnert ihre Kanone das erste Mal.
Minuten später ist das Ziel zerstört. Eine andere Flugabwehreinheit hat das Fluggerät getroffen. Es sei eine russische Aufklärungsdrohne gewesen, sagt Konstantin.
Kurz danach bricht kurz Aufregung aus. Ein „unbekanntes Flugobjekt“ befinde sich irgendwo über ihnen, ruft einer der Soldaten. Ich frage unseren Producer Ivan, ob wir uns vorsichtshalber in die Baumreihe zurückziehen sollten. Doch dann folgt die Entwarnung: Es handele sich wohl um eine ukrainische Drohne.
Eine halbe Stunde später, um viertel nach neun, führen wir ein letztes Interview mit Konstantin vor der Kamera. Wir haben vor, kurz danach zu gehen. Es sei bislang eine „ganz normale Nacht“, sagt Konstantin. Und keine Sorge, fügt er hinzu, das unbekannte Flugobjekt von gerade sei ein freundliches gewesen. Ein Moment der Erleichterung, er lacht zum ersten Mal an diesem Abend ausgelassen, als er das sagt.
Es ist 21.33 Uhr, als Kameramann Viktor noch einmal den sternenklaren Himmel filmt. Wir stehen zu diesem Zeitpunkt wenige Meter von dem Militärlastwagen entfernt und vielleicht vier oder fünf Meter von Konstantin.
Dann ist da plötzlich dieses Rauschen, das wir erst nicht zuordnen können. Einen Moment später schlägt eine russische Lancet-Drohne zentral in den Militärlastwagen ein – genau auf der Seite, auf der wir uns befinden. Konstantin, so ist es auf dem Video zu sehen, steht direkt neben der Stelle des Einschlags und sackt sofort zu Boden.
Als ich mich aufrappele, taste ich panisch nach meinem Kopf, meinen Armen und Oberschenkeln. „Ist das gerade wirklich passiert? Lebe ich?“
Dann sofort der Gedanke: Was, wenn die Russen gleich nochmal angreifen? Ich stolpere über die Wiese in Richtung einer Baumreihe, die zumindest etwas Schutz vor Drohnen bietet. Auf halbem Weg rufe ich nach Viktor, und er ruft nach mir.
„Hallo. Wir wurden angegriffen“
Als ich mich umdrehe, kommt er mir entgegen – unser Producer Ivan hängt in seinen Armen, offensichtlich verwundet. Gemeinsam schleifen wir ihn in die Baumreihe. „Was ist mit den Soldaten? Was ist mit den Soldaten?“, ruft Ivan. Wir wissen es noch nicht, aber Viktor hat eine Ahnung: „Ich glaube, einer hat sich nicht mehr bewegt.“
Als Ivan liegt, sehen wir, dass seine Hose voller Blut ist. Links und rechts an den Oberschenkeln klaffen Wunden, die linke blutet stark. „Wir haben überlebt“, sage ich zu ihm. „Ich bin bei dir.“
Doch so sehr ich mich zusammenreiße, so groß ist meine Angst um ihn. In die Notizen-App meines iPhones tippe ich: 21.40 Uhr. Wir schneiden Ivans Hose auf und legen ein Tourniquet an – eine Abbindeschlinge, um die Blutung zu stoppen. Ivan ist bleich, aber ansprechbar. Wir deaktivieren den Flugmodus unserer Handys, um Hilfe zu rufen.
Ivan, der den Dreh organisiert hat, kontaktiert über einen verschlüsselten Messenger den Sprecher der Brigade. „Hallo. Wir wurden angegriffen“, sagt er und beschreibt, wo wir uns befinden. Der Sprecher verspricht, sofort Hilfe zu schicken. Kurz überlegen wir, ob wir unser Auto holen und selbst fahren sollen. Aber wir kennen uns in diesem Frontgebiet nicht aus – und die Brigade hat zugesagt, zu kommen.
Während wir auf die Evakuierung warten, fordert Ivan mich auf, seinen Körper nach anderen Blutungen abzusuchen. Ich finde auf den ersten Blick nichts, aber kann seinen Rücken auch nicht komplett sehen. „Ich hab‘ doch bald Hochzeit!“, ruft Ivan plötzlich, als sei es ihm gerade erst wieder eingefallen. Im November will der 28-Jährige seine Verlobte Eleonora heiraten.
Knapp 35 Minuten nach dem Angriff rast ein Geländewagen an unserer Baumreihe vorbei und biegt direkt auf die Wiese ab, wo der brennende Militärlastwagen steht. Es sind Soldaten der Brigade. Viktor rennt hinterher, ich bleibe bei Ivan.
Als Viktor nach ein paar Minuten zurückkommt, sagt er: „Konstantin ist tot.“ Ein anderer Soldat sei schwer verwundet. Er habe dabei geholfen, die beiden in den Wagen zu tragen. Dann hält ein weiterer Geländewagen vor unserer Baumreihe, die Tür geht auf. „Kommt schon, kommt schon“, ruft ein Soldat. Viktor und ich schleifen Ivan in das Auto und steigen mit ein.
Gegen 23 Uhr betreten wir den engen Raum eines sogenannten „stabilisation point“ – ein Lazarett in Frontregionen, wo Soldaten medizinische Notversorgung erhalten, bevor sie in Krankenhäuser transportiert werden können. Links liegt Ivan in Boxershorts, während ihm ein Arzt gerade eine Spritze verabreicht. Rechts liegt ein Mann, den ich erst auf den zweiten Blick wiedererkenne: Ihor, der Soldat der Feuereinheit, den wir am Maschinengewehr interviewt hatten. Sein linkes Bein ist in Fetzen gerissen. Die Ärzte erkennen sofort, dass sie es amputieren müssen.
Ivan hat mehr Glück: Der Sanitäter der Brigade kann das kleinere Schrapnell im rechten Bein direkt herausholen. Das andere Metallstück hat sich so tief in den linken Oberschenkel gebohrt, dass er sich nicht herantraut. Aber er sagt uns, dass Ivans Bein nicht amputiert werden muss. Vielleicht könne er in ein paar Wochen schon wieder laufen.
In der Küche des Lazaretts kocht ein Soldat der Brigade Schwarztee. „Konstantin hatte doch Kinder“, sagt er, als er uns einen Plastikbecher in die Hand drückt. Im vergangenen Jahr habe es einen ähnlichen Drohnenangriff auf eine andere mobile Feuereinheit ihrer Brigade gegeben. Auch damals sei ein Kamerad getötet und einer schwer verwundet worden.
Ich gehe in den kleinen Hof vor dem Lazarett und rufe meinen besten Jugendfreund an, einen Lehrer, den ich in unserem schwäbischen Heimatdorf erreiche, 2400 Kilometer von der Front in der Ukraine entfernt. Ich stehe noch völlig neben mir und zittere, als ich ihm von dem russischen Angriff erzähle. „Jetzt kommsch‘ endlich nach Hause“, sagt er am Ende, und selten hat mir ein Gespräch so gutgetan.
Zurück in der Küche finde ich Viktor, der im Schneidersitz auf dem Boden kauert und Nachrichten an Freunde und Familie schickt. So blass habe ich ihn in den drei Jahren unserer Zusammenarbeit noch nie gesehen. Als er mich sieht, schüttelt er kurz ungläubig den Kopf. Der 13. Oktober, sagt Viktor, sei ab sofort unser zweiter Geburtstag.
Anmerkung der Redaktion: Vor und während jeder Reise in ein Konfliktgebiet halten Reporter und Newsroom engen Kontakt, um die Risiken zu minimieren – unterstützt von einer hervorragenden Sicherheitsabteilung. Trotzdem lassen sich beim Versuch, die Wirklichkeit für Leser und Zuschauer so wahrheitsgetreu wie möglich abzubilden, nicht alle Risiken ausschließen. WELT kümmert sich nach dem Angriff nicht nur um seinen Reporter, sondern auch um den frei beauftragten Kameramann Viktor Lysenko und Producer Ivan Z., um ihnen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen.
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