Die Koalition streitet um den Wehrdienst in Deutschland. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben viele Länder in Europa die Wehrpflicht abgeschafft, Deutschland hat sie ausgesetzt. Jetzt müssen Truppen aufgestockt werden - vor allem im Osten Europas, wo Russland ganz nah ist.

Noch vor einigen Jahren war es ganz normal: Der Musterungsbescheid landete im Briefkasten und dann hieß es ab in die Kaserne oder zum Zivildienst. Seit 14 Jahren gibt es keine Wehrpflicht mehr in Deutschland, 2011 ist sie ausgesetzt worden. In welcher Form der Wehrdienst wiederkommt, darüber streitet die Koalition.

Die meisten jungen Leute in Deutschland können sich einen Dienst an der Waffe nicht vorstellen. In einer Forsa-Umfrage haben sich 63 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dagegen ausgesprochen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. "Für kein Land dieser Welt würde ich eine Waffe in die Hand nehmen und andere Menschen töten", sagt ein junger Mann zu ntv. Eine junge Frau ist überzeugt: "Dass man da sein Leben riskieren kann, ist ein Punkt, der mir nicht so gut gefällt." Und ein Mädchen könnte sich einen freiwilligen Wehrdienst vorstellen, denn dann könne das jeder für sich entscheiden. "Aber wenn man dazu gezwungen wird, fände ich das nicht schön."

Über die Wehrpflicht diskutieren momentan viele europäische Länder. Der Angriff auf die Ukraine, Drohnensichtungen, Spionage - sie fühlen sich von Russland bedroht. Es gibt Zweifel daran, ob die USA unter Präsident Donald Trump Europa im Ernstfall helfen würden. "In Europa herrscht eisiger Friede", hatte BND-Chef Martin Jäger vor Kurzem im Bundestag gesagt. Er glaubt, dass der Konflikt mit Russland schon bald eskaliert.

Wehrpflicht wegen Ukraine-Krieg

Deshalb spielt eine starke Armee hauptsächlich in den Ländern eine Rolle, die nicht weit von Russland entfernt sind. Im Baltikum zum Beispiel. Estland, Lettland und Litauen grenzen direkt an Russland, Belarus oder die russische Exklave Kaliningrad. Diese Länder gehören zwar seit 1991 nicht mehr zur Sowjetunion und sind inzwischen Mitglieder in EU und NATO. Aber Moskau versucht besonders, sie zu destabilisieren. In allen drei Ländern gilt deshalb die Wehrpflicht.

Als erstes Land in Europa hatte Litauen die Wehrpflicht vor zehn Jahren wegen Russlands Krim-Annexion wieder eingeführt. Per Computerprogramm wird ausgelost, welche wehrpflichtigen jungen Männer einberufen werden. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine hatte auch Lettland seinen Pflichtwehrdienst vergangenes Jahr nach einer kurzen Pause wieder eingeführt. Er dauert elf Monate am Stück in der Armee oder verteilt auf fünf Jahre in der Nationalgarde. Heute gibt es in Lettland mehr Bewerber als bezahlte Posten bei der Armee. In Estland ist der Wehrdienst für Männer Pflicht - Frauen können freiwillig dienen.

"Bereitschaft der jungen Menschen im Baltikum hoch"

Auch in Polen sind die Kämpfe in der Ukraine eine reale Bedrohung: Russische Drohnen waren dort gesichtet und abgeschossen, an mehreren Stellen waren Trümmer entdeckt worden. Das Land grenzt zudem an Belarus. Eine Wehrpflicht gibt es dort nicht mehr. Polens Regierung will aber eine Reservetruppe schaffen und ab 2027 alle erwachsenen Männer militärisch ausbilden.

Im Baltikum haben die Armeen ein höheres Ansehen als die Bundeswehr bei uns in Deutschland, sagt der Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Henning Otte von der CDU, bei ntv. "In den baltischen Staaten ist die Bereitschaft der jungen Menschen sehr hoch, sich für Erhalt von Frieden und Freiheit einzusetzen." Auch in Finnland gebe es eine hohe Akzeptanz.

Finnland mit starkem Reservistenheer

Das schwedische Wehrdienstmodell ist Vorbild für Verteidigungsminister Boris Pistorius. Rechtlich gesehen gilt dort eine Wehrpflicht. Zur Armee kommen aber nur die, die passen und motiviert sind. Alle Männer und Frauen ab 18 Jahren müssen einen Fragebogen ausfüllen - ein Teil wird zur Musterung eingeladen. Wer geeignet ist, kommt zur Armee.

Etwas anders ist es in Finnland, dem Land mit der längsten europäischen Außengrenze zu Russland. Helsinki hat die Wehrpflicht nach dem Kalten Krieg nie abgeschafft. Alle Männer sind wehrpflichtig, Frauen können sich freiwillig melden. Die Altersgrenze für Reservisten ist kürzlich auf 65 Jahre angehoben worden. Finnland hat viele gut ausgebildete Soldaten und ein starkes Reservistenheer. Etwa ein Drittel der Reservisten ist innerhalb weniger Tage mobilisierbar.

"Brauchen mehr Kampfkraft"

Immer mehr Länder verpflichten auch Frauen für den Dienst an der Waffe. Vorreiter sind die skandinavischen Länder.

In Norwegen gilt die Wehrpflicht für Frauen seit zehn Jahren. Das Wehrdienstmodell funktioniert ähnlich wie in Schweden: Alle 18-Jährigen müssen einen Online-Fragebogen ausfüllen und Tests absolvieren. Sind sie geeignet, müssen sie einen zwölfmonatigen Grundwehrdienst leisten. Vergangenes Jahr waren über 30 Prozent der Wehrdienstleistenden Frauen.

Ganz frisch hat Dänemark die Wehrpflicht für Frauen eingeführt. Seit Juli müssen Frauen ab 18 Jahren damit rechnen, in die Armee eingezogen zu werden. Das sei notwendig in der aktuellen Situation auf der Welt, sagt die freiwillige Rekrutin Katrine bei ntv. "Es ist nur fair und richtig, dass Frauen gleichberechtigt mit den Männern teilnehmen." Die Gleichberechtigung bringe dem Militär mehrere Vorteile - nicht nur mehr Soldaten, sondern auch eine andere Dynamik.

Ab Januar 2026 werden die dänischen Rekrutinnen im Losverfahren ausgewählt. Auch bei den Männern entscheidet das Los, ob sie Militärdienst leisten müssen. Das war bisher nicht nötig, weil es genügend Freiwillige gab. Die dänische Regierung rechnet aber künftig mit Zwangseinberufungen. Langfristig möchte Dänemark die Zahl der Wehrdienstleistenden verdreifachen, auch wegen der russischen Bedrohung im Ostseeraum. Aufgrund der aktuellen Sicherheitslage sei die Zahl der Wehrpflichtigen erhöht worden, sagt der Leiter des Wehrpflichtprogramms, Kenneth-Strom, bei ntv. "Das ist der Grund, warum wir mehr Kampfkraft brauchen."

Analyse: Europa braucht 300.000 Soldaten zusätzlich

Auch in Österreich ist die Wehrpflicht nie abgeschafft worden. Dort dauert der Wehrdienst bisher sechs Monate, könnte aber bald angesichts der aktuellen geopolitischen Lage auf acht Monate verlängert werden.

Zum Militär müssen junge Männer außerdem in Zypern und Griechenland. Und bald auch in Kroatien: Ab Januar nächstes Jahr wird eine zweimonatige Grundausbildung eingeführt.

In Frankreich dagegen ist die Wehrpflicht seit 1996 Geschichte. Stattdessen setzt das Land auf Reservisten. Aktuell sind es rund 46.000. Bis 2035 will die französische Regierung diese Zahl auf 105.000 mehr als verdoppeln. Bisher scheint der Plan auch aufzugehen.

Europa rüstet massiv auf angesichts der Bedrohung durch Russland. Die Länder benötigen mehr Soldaten, um bestehen zu können, steht in einer Analyse des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Wenn die USA Europa bei der Verteidigung nicht helfen, brauche es geschätzt 300.000 zusätzliche Soldaten.

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