Im Winter 2022/23 fiel den Ausländerbehörden in Baden-Württemberg etwas Irritierendes auf. Unter den vielen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine waren Menschen, die sich nicht auf Ukrainisch verständigten. Auffällig sei, „dass sich diese Personen zur Verständigung oft fast ausschließlich der ungarischen Sprache bedienen beziehungsweise einen ungarischen Sprachmittler benötigen“, notierte das Innenministerium von Baden-Württemberg in einem Behörden-Rundbrief.
In Befragungen gaben einige Schutzsuchende an, ihre finanzielle Lage in Ungarn sei schlecht gewesen. Das Ministerium in Stuttgart legte nahe, dass es sich um Doppelstaatler mit ukrainischem und ungarischem Pass handelt. Sie geben sich in Deutschland als Flüchtlinge aus – mit der Aussicht auf Sozialleistungen. Es blieb nicht bei Einzelfällen.
Andere Bundesländer machen ähnliche Erfahrungen. Zwischen Mai 2023 und Oktober dieses Jahres meldeten die Länder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach Informationen von WELT AM SONNTAG 9640 Verdachtsfälle, 1136 Fälle stammen aus dem laufenden Jahr. Allein in den vergangenen vier Wochen sind 141 hinzugekommen, allein in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen. In vielen untersuchten Fällen hat sich der Verdacht nicht bestätigt, 5825 Personen haben laut BAMF tatsächlich ausschließlich einen ukrainischen Pass. Doch bei bislang 568 Personen stellte sich heraus: Sie besitzen die ungarische Staatsangehörigkeit, teilweise neben der ukrainischen. Die Behörden prüfen weiter.
Als EU-Bürger haben aber Ungarn keinen Anspruch auf temporären Schutz. Insbesondere das den ukrainischen Kriegsflüchtlingen gewährte Bürgergeld steht ihnen nicht ohne Weiteres zu. „Das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern und der vorübergehende Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine unterscheiden sich bezüglich ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen teils erheblich“, teilte dazu ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums mit.
Konkret: Wer als EU-Bürger länger hier bleiben will, muss arbeiten – oder von eigenem Geld leben. Man müsse wohl davon ausgehen, so sagt ein Behördenmitarbeiter, dass es in Teilen um Sozialleistungsmissbrauch gehe. Doch warum betrifft das ausgerechnet Personen mit ungarischem Pass?
Wer mit Experten und Behördenmitarbeitern spricht, stößt auf ein Problem, das tief in die Geschichte einer Minderheit reicht. Offiziell macht kaum eine Behörde Angaben zur Motivation. Doch es gibt Vermutungen.
„Als EU-Bürger haben sie keinen Anspruch auf Schutz“
Möglich sei, so formulierte es eine Sprecherin des Innenministeriums von Niedersachsen, „dass Angehörige der ungarischen Minderheit in der Ukraine, die neben einer ukrainischen Staatsangehörigkeit auch die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen, davon ausgehen, auch einen Anspruch auf vorübergehenden Schutz für Kriegsvertriebene aus der Ukraine zu besitzen“. Tatsächlich stammen viele Betroffene dem baden-württembergischen Ministerium zufolge aus dem ukrainisch-ungarischen Grenzgebiet. Häufig handelt es sich um ethnische Roma, die vor Kriegsbeginn in der Ukraine lebten – mit Doppelpass. Nach dem russischen Angriff flohen sie aber eben nicht nach Ungarn.
„In der westukrainischen Region Transkarpatien lebt eine ungarischsprachige Minderheit, die überwiegend aus ethnischen Ungarn, aber auch einigen Roma besteht“, sagt Péter Balogh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Regionale Studien und Assistenzprofessor für Humangeografie an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Seit 2010 könnten diese Menschen relativ leicht die ungarische Staatsbürgerschaft erwerben – ein Projekt der Regierung unter Viktor Orbán, das auch wahlpolitischen Zwecken diente. Einige nutzten die Option und wurden zusätzlich ungarische Staatsbürger – in der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten. Nach Kriegsbeginn in der Ukraine wurde der Doppelpass allerdings zum Problem.
Denn nicht jeder, der die Ukraine in Richtung Ungarn verlassen wollte, war dort willkommen. Balogh sagt: „Für die ethnischen Ungarn war die Integration in Ungarn meist problemlos – viele arbeiteten schon zuvor dort. Schwieriger war es für die Roma: Einige zogen nach Ungarn und erlebten auch dort Diskriminierung, andere wanderten weiter nach Westeuropa in der Hoffnung auf eine freundlichere Aufnahme. Doch als EU-Bürger haben sie dort keinen Anspruch auf Schutz.“
Ungarische Nichtregierungsorganisationen (NGO) berichten seitdem über Missstände. „Ähnlich wie die in Ungarn lebenden Roma sind auch Roma-Flüchtlinge aus der Ukraine bei ihrer Ankunft erheblicher Diskriminierung ausgesetzt“, schreibt etwa die in Budapest ansässige Romaversitas Foundation. Das betreffe die Bereiche Wohnen, Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheitsversorgung. Mancherorts, heißt es, werde die Einschulung von Roma-Kindern durch Vorurteile behindert.
Und als 2022 mehrere Roma-Flüchtlinge mit Doppelpass in Tschechien strandeten, stellte auch das Innenministerium in Prag klar: Doppelstaatler haben keinen Anspruch auf Schutz. Wie das Portal „Novinky.cz“ berichtete, halfen daraufhin NGOs einigen Roma, in andere EU-Staaten weiterzureisen – darunter Deutschland. „Dort kümmert es niemanden, ob sie eine doppelte Staatsbürgerschaft haben“, zitierte das Portal einen Helfer. Ein Irrtum, wie sich bald zeigte.
Im Herbst 2023 bat das Bundesinnenministerium die Länder, alle Fälle von Ukrainern mit möglicher ungarischer Staatsangehörigkeit an das BAMF zu melden. Aus den einschlägigen EU-Regeln gehe „eindeutig hervor, dass es sich bei den vom vorübergehenden Schutz umfassten Personen um Drittstaatsangehörige handeln muss“. EU-Bürger sind keine Drittstaatsangehörige.
Das BAMF koordiniert seither auch die Übermittlung von Verdachtsfällen an die zuständigen Behörden in Ungarn und der Ukraine. Die beiden Länder prüfen dann die Fälle. Wird eine ungarische Staatsangehörigkeit bestätigt, sind die Betroffenen in Deutschland ausreisepflichtig – sofern sie keine Arbeit besitzen oder ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten.
In der Praxis ist die Ausreise der Betroffenen jedoch kaum zu kontrollieren. Über Abschiebungen ist nichts in Erfahrung zu bringen. Manche dürften freiwillig zurückkehren, andere weiterreisen oder abtauchen. „Am Ende ist es eine traurige Geschichte – die Roma werden überall hin und her geschoben“, sagt Wissenschaftler Balogh.
Allerdings: Kein Aufnahmeproblem haben Roma mit ausschließlich ukrainischem Pass. Als Kriegsflüchtlinge steht ihnen in der EU temporärer Schutz mit allen Sozialleistungen zu.
Politikredakteurin Ricarda Breyton schreibt seit vielen Jahren über Migrationspolitik.
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