Der Jurist Felix Klein, 57, ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.

WELT AM SONNTAG: Herr Klein, zwischen Israel und der Hamas zeichnet sich eine Waffenruhe ab. Wird der Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober auch in Deutschland explodiert ist, damit wieder abnehmen?

Felix Klein: Ich bin vorsichtig optimistisch. In der Vergangenheit konnten wir immer wieder beobachten, dass antisemitische Vorfälle zunehmen, wenn die Spannungen im Nahen Osten steigen. Umgekehrt gilt das aber auch: Wenn die Gewalt zurückgeht, beruhigt sich die Lage hier meist ebenfalls. Diese sogenannte Gelegenheitsstruktur – also der äußere Anlass, der Antisemitismus aktiviert – fällt dann weg.

Ich hoffe sehr, dass sich damit auch die gesellschaftlichen Milieus, die besonders anfällig für israelbezogenen Antisemitismus sind, wieder stärker öffnen und zugänglich werden. Wenn die täglichen Bilder aus Gaza ausbleiben, wenn das Leid dort nicht mehr so unmittelbar präsent ist, sinkt erfahrungsgemäß auch die emotionale Aufladung. Gerade jetzt müssen wir diese Phase nutzen, um in der Prävention entschlossener zu handeln – und Strukturen zu schaffen, die langfristig wirken.

WAMS: Kürzlich wurden drei mutmaßliche Hamas-Terroristen in Deutschland festgenommen, kurz darauf gab es einen Anschlag auf eine Synagoge in Manchester. Der Täter war offenbar ein Islamist. Muss man nicht endlich klar benennen, dass der islamistische Antisemitismus derzeit die gefährlichste und gewaltbereiteste Form ist?

Klein: Er ist zweifellos die aktuell gewaltintensivste Erscheinungsform des Antisemitismus. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland berichten mir, dass gerade von arabischstämmigen Tätern und aus islamistischen Milieus die unmittelbarste Bedrohung ausgeht. Wir müssen das klar benennen. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht den Fehler machen, die anderen Formen von Antisemitismus zu unterschätzen.

Der Antisemitismus von rechts bleibt gefährlich – er schafft den Nährboden für Hass und Gewalt. Und auch die verschwörungsideologischen, die „postkolonialen“ oder linken Varianten, die Israel dämonisieren, sind Teil desselben Problems. Es gibt keine „harmlose“ Form des Antisemitismus. Im Hass auf Juden und Israel finden sich Milieus, die sonst nichts miteinander verbindet: türkische Rechtsextremisten, Linke, Islamisten. Sie alle bedienen dieselben Feindbilder – und das ist das eigentlich Beunruhigende.

WAMS: Modeschöpfer Karl Lagerfeld sagte 2017: „Man kann nicht Millionen Juden töten und dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen.“ Hatte er recht?

Klein: Er hat in sehr zugespitzter Form auf ein reales Problem hingewiesen – auf die Versäumnisse unserer Integrationspolitik. Aber solche Sätze dürfen nicht dazu führen, dass sich die Mehrheitsgesellschaft selbst entlastet. Die Verantwortung liegt bei uns allen. Wir haben zu lange geglaubt, Integration sei mit Sprachkursen getan. Dabei geht es auch um Wertevermittlung: Wer hier lebt, muss akzeptieren, dass Antisemitismus keinen Platz hat.

WAMS: Gehört dazu auch, dass Antisemiten ohne deutschen Pass konsequent abgeschoben werden?

Klein: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Wir haben im deutschen Ausländerrecht längst die rechtliche Möglichkeit, Menschen, die durch antisemitische Taten auffallen, auch auszuweisen – und diese Möglichkeit sollte, wo sie gegeben ist, konsequenter genutzt werden. Das ist kein Wunsch nach Willkür, sondern Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaats. Wer in Deutschland lebt, aber die Grundwerte unseres Gemeinwesens – und dazu gehört die unbedingte Achtung jüdischen Lebens – offen missachtet oder gar bekämpft, der stellt sich außerhalb dieses Konsenses.

Allerdings muss so ein Schritt rechtsstaatlich einwandfrei erfolgen. Eine bloße polizeiliche Ermittlung oder ein Anfangsverdacht reicht nicht aus. Aber wenn ein Gericht festgestellt hat, dass jemand aus antisemitischer Motivation gehandelt hat – sei es durch Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, durch Anschläge auf Synagogen oder durch Hetze –, dann sollte er das Land verlassen müssen.

WAMS: Sollte Doppelstaatlern die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden, wenn sie sie aus antisemitischer Gesinnung heraus grobe Straftaten begangen haben?

Klein: Das ist ein schwerwiegender Schritt, der genau geprüft werden muss. Aber wer sich bei der Einbürgerung bewusst falsch erklärt hat oder sich nachweislich gegen die Werte des Grundgesetzes stellt, der hat dieses Privileg verwirkt. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist kein reiner Verwaltungsakt, sie ist ein Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Und Antisemitismus steht dazu in fundamentalem Widerspruch. WAMS: Sie sagten, die Integration sei zu einseitig auf Spracherwerb ausgerichtet gewesen. Wie gelingt künftig eine „Werteintegration“?

Klein: Indem wir die Integrationskurse ausbauen – und sie nicht als Sparposten betrachten. In diesen Kursen wird nicht nur Grammatik vermittelt, sondern auch das Verständnis dafür, was Demokratie, Gleichberechtigung oder Religionsfreiheit bedeuten. Wir brauchen darüber hinaus Strukturen, die Menschen auffangen – kommunale, zivilgesellschaftliche, kirchliche. Niemand wird als Antisemit geboren. Haltung kann erlernt werden, wenn sie konsequent eingefordert wird. Dafür braucht es die gesamte Gesellschaft: Schulen, Vereine, Betriebe, Sportverbände. Antisemitismus ist kein Nischenthema, sondern ein Angriff auf das Fundament unseres Zusammenlebens.

WAMS: Welchen Anteil hat die Berichterstattung vor allem der öffentlich-rechtlichen Medien an dem Antisemitismus hierzulande?

Klein: Wir brauchen in Deutschland einen Journalismus, der fair berichtet, der Quellen prüft, Propaganda erkennt und benennt. Gerade die öffentlich-rechtlichen Sender tragen eine besondere Verantwortung für Ausgewogenheit und Faktenorientierung. Wenn sie dieser nicht gerecht werden, leisten sie ungewollt der antisemitischen Stimmung in der Gesellschaft Vorschub. Menschen in Deutschland – gerade jene, die mit der Region nicht vertraut sind – orientieren sich an dem, was sie in Nachrichten und Reportagen sehen. Sie gehen davon aus, dass die Berichterstattung neutral und vollständig ist. Umso größer ist die Wirkung, wenn zentrale Zusammenhänge fehlen oder verzerrt werden.

Wenn die Sender über Gaza berichten, sehen wir zerstörte Häuser, verletzte Kinder, unermessliches Leid – das ist real und muss selbstverständlich gezeigt werden. Aber wenn der Kontext fehlt, also die Tatsache, dass dieser Krieg durch das barbarische Massaker der Hamas am 7. Oktober ausgelöst wurde, dann entsteht ein falsches Bild, dann erscheint Israel als Aggressor, als Urheber des Leids. Von öffentlich-rechtlichen Medien erwarte ich, dass sie immer wieder den Zusammenhang herstellen: dass Israels Handeln eine Reaktion auf beispiellosen Terror war. Genau diese Kontextualisierung unterscheidet seriösen Journalismus von emotionalisierter Berichterstattung.

WAMS: Brauchen die Sender jeweils eigene Antisemitismus-Beauftragte?

Klein: Auf jeden Fall – das halte ich für ausgesprochen wichtig. Wir sollten in allen großen Medienhäusern feste Ansprechpartner für Antisemitismus-Fragen haben – so wie es inzwischen in Behörden, Schulen oder Universitäten üblich ist. Gerade in Redaktionen, in denen täglich Entscheidungen getroffen werden, welche Themen auf welche Weise in die Öffentlichkeit gelangen, ist das von entscheidender Bedeutung. Es geht ja nicht nur um Fakten, sondern um die Vermittlung von Haltung, um Verantwortung für das gesellschaftliche Klima. Der Umgang mit Israel, mit dem Nahost-Konflikt, mit jüdischem Leben in Deutschland – das sind Themen, die die Gesellschaft emotional stark aufladen. Und gerade deshalb brauchen wir hier ein professionelles, sachkundiges Fundament.

Ich freue mich deshalb sehr, dass es inzwischen einen jüdischen Journalistenverband gibt, der künftig auch als Ansprechpartner und Partner für Medien dienen kann. Diesen Verband unterstütze ich aus meinem Haushalt, erstmals im kommenden Jahr, weil er eine Lücke füllt, die lange bestand: Er kann journalistische Redaktionen beraten, Schulungen anbieten, rechtliche Expertise liefern und dabei helfen, Vorurteile zu erkennen, bevor sie sich in die Berichterstattung einschleichen.

WAMS: Wie kann es sein, dass dem Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) vorgeworfen wird, er wolle Einfluss auf die Programmplanung nehmen, weil er – und das zu Recht – einen Auftritt des Rappers Chefket als unmöglich kritisiert hat, der öffentlich eintritt für ein Palästina „from the river to the sea“, also ohne israelischen Staat in der Region.

Klein: Es läuft grundsätzlich etwas schief, wenn Antisemitismus in bestimmten Milieus inzwischen wieder als akzeptabel gilt – als etwas, über das man diskutieren oder das man im Zweifel relativieren kann. Diese schleichende Normalisierung halte ich für brandgefährlich. Was mich im Fall dieses Rappers besonders erschüttert hat, ist die Unbelehrbarkeit. Er hat öffentlich erklärt, er sehe in seinen Aussagen keinerlei Antisemitismus.

Dabei ist die Sache eindeutig: Wer das Existenzrecht Israels infrage stellt oder gar leugnet, wer „From the river to the sea“ als Parole verwendet, der bewegt sich jenseits jeder roten Linie. Nach allen wissenschaftlichen Definitionen! Dass man in der Kunst- und Kulturszene glaubt, man könne Antisemitismus hinter künstlerischer Freiheit verstecken oder mit vermeintlicher Gesellschaftskritik rechtfertigen, ist inakzeptabel.

Es ist gut, dass Kulturstaatsminister Wolfram Weimer in diesem Fall klar Stellung bezogen hat. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Antisemitismus im Kulturbetrieb keinen Platz haben darf. Ich finde, er hat sich richtig verhalten. Er griff nicht in die künstlerische Freiheit ein, sondern richtete einen Appell an die Verantwortung der Institution – in diesem Fall an das Haus der Kulturen der Welt. Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut, aber sie ist keine Freiheit zur Menschenfeindlichkeit. Wenn sich der Staat, seine Vertreterinnen und Vertreter, in solchen Fragen zu Wort melden, dann verteidigen sie nicht die Zensur, sondern die Grundwerte, auf denen unsere Demokratie beruht.

Jacques Schuster ist Chefredakteur der WELT AM SONNTAG sowie Chefkommentator.

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