Das Vertrauen in den Bundestag unter den Deutschen ist gering, Klagen über angeblich faule Politiker sind an der Tagesordnung. Dabei ist die Arbeit der Abgeordneten durchaus anstrengend. Eine Studie zeigt: Sie zu entlasten, würde den "Maschinenraum der Demokratie" stärken.
"Ich halte es für eine große Ehre, gewählte Abgeordnete sein zu dürfen", sagte die damalige FDP-Vizechefin Katja Suding 2020 im Interview mit ntv.de. Soweit alles normal - das sagen Bundestagsabgeordnete eigentlich immer, wenn sie über ihren Job sprechen. "Aber ich glaube nicht, dass es für alle ein Traumjob ist, 80 Stunden pro Woche zu arbeiten und permanent unter öffentlicher Beobachtung zu stehen", so Suding weiter.
Eine neue Studie gibt der Politik-Aussteigerin recht. Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat die Pollytix Research GmbH Gespräche mit dreißig Bundestagsabgeordneten geführt, die in der vergangenen Legislaturperiode von sich aus entschieden haben, nicht erneut für das Parlament zu kandidieren. Unter den dreißig ehemaligen Abgeordneten waren zwölf Sozialdemokraten, neun Unionspolitiker, fünf Grüne, drei Freidemokraten und eine Linke. Nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung konnten keine Abgeordneten aus der AfD-Fraktion für die Untersuchung gewonnen werden.
Das Bild, das die ehemaligen Politiker in den Interviews von sich vermittelt haben, sei eines von sehr motivierten, verantwortungsvollen und belastbaren Abgeordneten gewesen, schreiben die Autoren der Studie. Dieses Selbstbild erweise sich jedoch als zunehmend fragil: "Die MdBs sprechen häufig die überhöhten Erwartungen, die enormen Belastungen, die teils ineffizienten Arbeitsbedingungen und die oft fehlende Unterstützung an. Auch eine raue politische Kultur, verbale Angriffe im (digitalen) öffentlichen Raum sowie eine eingeschränkte Gestaltungsmacht, insbesondere in der Opposition, kommen zur Sprache."
"Einfach nur jeden Tag überleben"
Eine solche Beschreibung der eigenen Situation ist mittlerweile die Regel, wenn scheidende Abgeordnete sich äußern. "Spitzenpolitiker brauchen heutzutage eine absolute Stressresistenz, eine bis ins Übermenschliche gehende mentale und physische Stärke", sagte etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth im Interview mit dem "Stern", nachdem er seinen Ausstieg angekündigt hatte. Nötig sei die "Fähigkeit, sich nicht kirre machen zu lassen", zudem ein "überbordendes Selbstbewusstsein". Wer heute Spitzenpolitik betreibe, "steht ständig unter öffentlicher Kontrolle, muss sich permanent äußern, hat kaum Zeit, einfach mal in Ruhe nachzudenken". Das sei brutal, so Roth. "Spitzenpolitiker müssen heute jeden Tag einfach nur überleben."
Roth hat ein Buch über seine Zeit als Politiker geschrieben, bereits der Titel "Zonen der Angst" legt nahe, dass seine Erfahrung ein extremes Beispiel ist - aber völlig untypisch ist sie nicht. Aktive Politiker äußern sich nur selten so, wie Roth oder Suding es gemacht haben. Zu stark ist die Angst, auf Unverständnis zu stoßen. "Zum Preis gehört eben, dass du ständig im Überstundenmodus bist", sagt die Grünen-Politikerin Renate Künast, die dem Bundestag 23 Jahre angehörte.
Vertrauen in den Bundestag ist gering
Denn natürlich haben alle Politikerinnen und Politiker ihr Schicksal selbst gewählt. Und allen ist klar, dass das Verständnis in der Bevölkerung für den Druck, dem sie ausgesetzt sind, sich in engen Grenzen hält: Die Bertelsmann-Studie zitiert eine Erhebung aus dem vergangenen Jahr, derzufolge nur 42 Prozent der Befragten dem Bundestag vertrauen. In einer Forsa-Umfrage vom Januar 2024 sagten sogar nur 32 Prozent, sie hätten Vertrauen in den Bundestag. Das für die repräsentative Demokratie zentrale Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten sei belastet, bilanzieren die Autoren der Studie.
Allein die Dauerbelastung wäre ein Grund, die Situation von Abgeordneten zu verändern: Dann nämlich würden nicht nur ihre Arbeitsbedingungen erträglicher, sondern vor allem würden sich die Abläufe von Gesetzgebungsverfahren verbessern, was wiederum das Vertrauen in den Bundestag stärken dürfte. Denn es geht bei den Klagen der Ehemaligen keineswegs in erster Linie um persönliche Befindlichkeiten. Zu häufig ist allein der zeitliche Druck zu hoch, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen. "In einigen Fällen - meiner Ansicht nach in zu vielen Fällen - werden unübersichtliche Regelungen in (Gesetz-) Entwürfe geschmuggelt, nicht alle Absichten offengelegt, die im Ministerium dahinterliegen, oder enge Zeitpläne vorgelegt", sagt der frühere Grünen-Abgeordnete Markus Kurth.
Auch Debattenkultur raubt Kraft
Die Klage über zu wenig Zeit stand vor zwei Jahren hinter einem erfolgreichen Eilantrag des CDU-Abgeordneten Thomas Heilmann beim Bundesverfassungsgericht: Heilmann setzte in Karlsruhe durch, dass der Bundestag mehr Zeit bekommt, sich mit dem sogenannten Heizungsgesetz zu beschäftigen. Es liege "auf der Hand", dass die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens die vom Grundgesetz garantierten Beteiligungsrechte des Abgeordneten verletzen könnte, so die Richter.
Zum zeitlichen Druck kommt noch eine mangelhafte Digitalisierung. Die ehemalige Linken-Abgeordnete Anke Domscheit-Berg kritisiert in der Studie, vor Haushaltsberatungen seien dem Parlament "tausend Seiten lange PDF-Dokumente" zugegangen, die man "nicht mal richtig durchsuchen" habe können. Ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete, die sich mit diesem Statement nicht namentlich zitieren lassen will, bemängelt, dass es "kaum Unterstützung bei der Kinderbetreuung" gebe. "Abends um 22 Uhr gibt es noch namentliche Abstimmungen und in der Früh um 7 muss man wieder im Ausschuss sitzen."
Viele Abgeordnete stören sich zudem an einer härteren, respektlosen Debattenkultur. "Die Zwischenrufe aus der AfD sind in der Regel frauenfeindlich und total herablassend gegenüber unserem Land, unserer Demokratie", sagt die ehemalige stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Nadine Schön. Sehr deutlich hatte ihre Parteikollegin, die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, diese Art des Drucks als einen Grund für ihr Ausscheiden aus dem Bundestag genannt: "Ich habe viel an Beleidigungen, Bedrohungen, aber leider auch viel Gleichgültigkeit erlebt. Das raubt Kraft", so Magwas.
Der Maschinenraum soll gestärkt werden
Dazu kommt eine hohe Erwartungshaltung von Wählerinnen und Wählern. "Manchmal sitzt man da und denkt sich: Wenn jetzt der nächste reinkommt und sagt: 'meine Waschmaschine ist kaputt, können Sie da mal was machen?', würde es mich nicht mehr wundern", lautet ein weiteres anonymes Zitat in der Studie.
Als "Krisenzeichen" werten die Verfasser, dass in der vergangenen Legislaturperiode relativ viele Abgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden sind. Sie betonen aber auch, dass die parlamentarische Gestaltungs- und Kontrollmacht zwar zunehmend erschwert sei. Dennoch bleibe der Bundestag handlungsfähig "und wird auch von den befragten Abgeordneten nicht als handlungsunfähig empfunden".
Trotzdem sehen die Autoren der Studie Reformbedarf - der von den interviewten Ex-Politikern selbst offenbar nur am Rande thematisiert wurde. Das könnte daran liegen, dass sie ihr Mandat, wie die FDP-Politikerin Suding, als Ehre ansehen. Aber auch daran, "dass sie aufgrund ihrer besonderen Stellung die Verantwortung vor allem bei sich selbst sehen und eine 'Ich schaffe das schon alleine'-Mentalität an den Tag legen", so die Verfasser. Die Studie spricht sich für eine Stärkung des Parlaments aus, dem "Maschinenraum der Demokratie", wie es in ihrem Titel heißt. Dem sollten sich, so die Forderung, nicht nur das Bundestagspräsidium, sondern auch die Bundesregierung verschreiben, denn: Viele Kritikpunkte gehen auf den Umgang der Regierung mit dem Parlament zurück.
Zudem plädieren die Autoren für eine stärkere Unterstützung der Abgeordneten durch das Bundestagspräsidium. Das betrifft etwa Fragen der Personalführung, bei denen die Abgeordneten, die ja faktisch auch Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter sind, bisher weitgehend auf sich gestellt sind. Auch hier geht es nicht darum, Abgeordneten ihr Leben leichter zu machen. Sondern ihnen Freiraum zu geben, damit sie ihren eigentlichen Aufgaben besser nachkommen können: gute Gesetze schreiben und der Regierung auf die Finger sehen.
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