Der 7. Oktober 2023 begann im Kibbuz Kissufim wie ein gewöhnlicher Samstag. Dann tauchten die ersten Spuren im Sand der Negev-Wüste auf. Die Männer des beduinischen Wüstenaufklärungsbataillons Gadsar 585 lasen die Zeichen, die andere übersehen hatten. Wo die israelische Armee Bewegungssensoren und Drohnen einsetzt, vertrauen die Beduinen, eine arabische Minderheit, auf ihr eigenes, über Generationen gehütetes Wissen, das sie „das Lesen der Erde“ nennen.
„Ein Mann mit Kalaschnikow läuft anders als jemand mit einem Raketenwerfer“, erklärt Oberstleutnant Nader Eyadat, der 39-jährige Kommandeur des Bataillons 585, dem israelischen Fotografen Guy Fattal. Dieser war monatelang durch Israel gereist, um die Helden jenes Terrormorgens kennenzulernen. Seine Geschichten hat er mit WELT geteilt.
Eyadats Augen, geschult durch Jahrzehnte in der Wüste, lesen den Sand wie andere ein Buch: „Der rechte Fuß drückt tiefer ein, wenn er die Waffe auf der rechten Schulter trägt. Die Schrittlänge verkürzt sich mit schwerem Gepäck. Sand verhält sich anders unter militärischen Stiefeln als unter Turnschuhen.“
Als die Sonne aufging und die ersten Raketen den Himmel zerrissen, waren die Männer des 585. Bataillons bereits in Bewegung. Auf ihrer Patrouille sahen sie, was den Satelliten verborgen geblieben war: frische Fußabdrücke, die sich vom Grenzzaun wegbewegten. Verformte Sandschichten, wo sich jemand auf den Bauch gelegt hatte. Die charakteristische Spur eines mitgeschleppten Raketenwerfers. Kurz danach stellten sie 20 Terroristen und eliminierten sie im Nahkampf. Danach folgte der Großeinsatz.
An jenem schicksalhaften Tag fielen 21 beduinische Israelis, die einer 300.000 Menschen zählenden Gemeinde in der Negev-Wüste angehören. Sie stellten am 7. Oktober auch besonders viele Retter.
Seit der Staatsgründung 1948 sind mehr als 100 beduinische Soldaten für Israel gestorben. Seit jeher dienen viele von ihnen freiwillig in der Armee. Ohne Wehrpflicht, ohne Zwang – aus Überzeugung.
Manche der beduinischen Helden stammen aus Siedlungen, die es auf offiziellen Karten gar nicht gibt, weil sie vom jüdischen Staat nicht anerkannt sind. Es existieren zahlreiche Dörfer, in denen Menschen ohne Strom und fließendes Wasser leben und die vom Abriss bedroht sind.
Ein Regionalrat dieser Gemeinden kämpft seit 1997 für die grundlegendsten Rechte der Minderheit. Viele Beduinen beweisen bedingungslose Loyalität, geben ihr Leben für einen Staat, der ihr Heim als illegal betrachtet und ihnen daher grundlegende Bürgerrechte verwehrt, wie Menschenrechtsorganisationen kritisieren.
„Die Erde vergisst nicht“, sagt ein beduinisches Sprichwort. Am 7. Oktober schrieben die Fährtenleser der Wüste ihre eigenen Spuren in den Sand der Historie. Es sind Geschichten von Helden, ohne deren mutigen Einsatz es noch viel mehr Opfer gegeben hätte. Dokumentiert sind sie unter anderem in Untersuchungsakten der israelischen Armee und einem israelisch-britischen Parlamentsreport zu den Ereignissen des Terrorangriffs der Hamas.
Immer wieder fuhr er in die Todeszone
Einige Kilometer entfernt vom Kibbuz Kissufim bewachte Sergeant Ashraf al-Bakhiri (42) einen Checkpoint, gemeinsam mit drei anderen Soldaten. Plötzlich rückten Dutzende Hamas-Kämpfer an.
Zwei Stunden lang hielten die vier Männer die Stellung. „Wir sind vier, sie sind vierzig“, funkte er an die Basis. „Aber wir kennen jeden Stein hier“, so der Sergeant im Juli vergangenen Jahres in einem Interview mit der Tageszeitung „Jedi’ot Acharonot“.
Auch auf der nahegelegenen Nahal-Oz-Basis entbrannte ein erbitterter Kampf. Fährtenleser Ibrahim Kharuba stand am Eingang, als die ersten Angreifer erschienen. Bis zur letzten Patrone hielt er durch – sein Körper wurde später dort gefunden, wo er postiert war. „Es ist meine größte Ehre, für euch und den Staat Israel zu sterben“, rief er im Gefecht den Wachsoldatinnen der Einheit 414 am Stützpunkt zu.
Für diesen Einsatz empfahl ihn die Armee posthum als Träger der „Medal of Valor“, Israels höchster militärischer Auszeichnung, die seit der Staatsgründung nur 220 Mal vergeben worden ist. Im März 2025 legte Ido Kas, Colonel der israelischen Armee (IDF), die Ergebnisse der Untersuchung zum Kampf um Nahal Oz vor.
30 Autominuten weiter südlich überrannten 50 Hamas-Terroristen das kleine Kibbuz Sufa, töteten wahllos. Beduinische Spurenleser führten fliehende Zivilisten durch Minenfelder in Sicherheit. Denn sie kennen Pfade, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Durchgänge, die ihre Väter ihnen einst gezeigt hatten. Als sie noch Schafe hüteten, dort, wo heute die Grenzzäune stehen.
Fotograf Guy Fattal, der Kämpfer des Beduinen-Bataillons porträtierte, traf unter anderem Oder Mohammad, einen Kampfsanitäter, der unter Beschuss zwischen Verwundeten umherkroch. „Ich dachte nicht nach“, sagte er später. „Ich hörte sie schreien. Auf Hebräisch, auf Arabisch – Schmerz klingt in jeder Sprache gleich.“
Auch Youssef Alziadna aus Rahat, der größten beduinischen Stadt Israels, wurde an diesem Morgen zum Helden. Er fuhr mit dem Minibus Besucher zum Nova-Musikfestival in Sufa. Was als Routineauftrag begann, wurde zur Rettungsmission.
Als plötzlich Raketen einschlugen, junge Menschen flohen und in Panik davonrannten, brachte er viele von ihnen mit seinem Bus in Sicherheit, drehte um, fuhr immer wieder in die Todeszone. 30 Menschen verdanken ihm ihr Leben.
„Ich blickte dem Tod ins Gesicht“, erzählte er später der Jewish Telegraphic Agency. „Aber ich wusste, ich konnte meine Mission nicht aufgeben. Ich musste gehen und sie retten.“ Vier seiner Familienmitglieder wurden an diesem Tag als Geiseln nach Gaza verschleppt, zwei getötet. Als er wie anderen Beduinen im Februar 2024 eine Medaille erhielt, weinte Alziadan.
Die beduinische Al-Karnawi-Familie stammt ebenfalls aus Rahat. Als die sechs Brüder vom Überfall hörten, fuhren auch sie mit ihren privaten Fahrzeugen in die Kampfzone, wieder und wieder. Sie befreiten Nachbarn, die für sie mehr waren als Kunden.
Genauso handelte Amer Abu Sabila. Der 25-Jährige aus dem Ort Abu Talal sah eine Mutter mit zwei kleinen Töchtern eingekesselt von Terroristen. Er sprang in Sderot aus dem Auto, stellte sich zwischen Angreifer und Familie. Mutter und Töchter überlebten, Abu Sabila nicht. „Lauft, ich halte sie auf“, das waren seine letzten Worte.
Mit einer List hielt sie die Terroristen auf
Eine ganz besondere Heldentat ereignete sich im drusischen Dorf Yated, weniger als ein Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Kurz vor sieben Uhr am Morgen hörte dort die 48-jährige Nasreen Yousef Schüsse. Als drei bewaffnete Männer auftauchten und auf Arabisch nach dem Weg fragten, erkannte Yousef sofort: „Ihr Dialekt war aus Gaza“. So berichtete sie später der „Times of Israel“.
Mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit spielte Yousef die Kollaborateurin. Sie bot den Männern Wasser an, fragte nach ihren Plänen, gab vor, Israel zu hassen. „Ich sagte ihnen, dass mein Sohn im israelischen Gefängnis sitzt, was nicht stimmte. Er studiert Medizin in Haifa.“ Die Terroristen fassten Vertrauen und weihten sie in ihre Pläne ein. Ihr Ziel war die nahegelegene Schule. 127 Kinder warteten dort auf den Unterrichtsbeginn.
„Der Anführer zeigte mir eine handgezeichnete Karte. Darauf waren 16 Häuser markiert, meines war Nummer 3“, erzählte Yousef. Sie erschütterte, wie detailliert die Terroristen ihren mörderischen Angriff geplant hatten. Die Männer aus Gaza wussten sogar, wo die Schulkinder lebten, welche Familien Waffen besaßen und wer in der Armee gedient hatte.
Sie schickte über WhatsApp sofort Nachrichten an ihren Schwager bei der Polizei. Koordinaten, Bewaffnung, geplante Route – alles heimlich getippt, während sie den Männern Tee einschenkte. „Ich hatte solche Angst, dass meine Hände zitterten, aber ich hielt das Telefon unter dem Tisch“, sagte sie. Sie teilte ihren Standort, damit die Sicherheitskräfte ihre Position verfolgen konnten.
Yousef hielt die Männer auf, 23 entscheidende Minuten lang. Sie bot ihnen auch noch Essen an und behauptete, ihr Mann habe bessere Karten im Auto. Sagte, er komme gleich, bat sie zu warten. Zeigte ihnen Familienfotos, erfand Geschichten über Verwandte in Gaza, spielte arabische Musik auf ihrem Smartphone. Alles, um Zeit zu gewinnen. Als einer der Männer ungeduldig wurde, begann sie zu weinen und sprach von der „Unterdrückung“ der Drusen durch Israel.
Auch damit gewann sie kostbare Minuten. In der Zwischenzeit gelang es der israelischen Armee, einen Hinterhalt vorzubereiten. Alle drei Terroristen wurden, noch bevor sie das Dorf angreifen konnten, neutralisiert. Später stellte sich heraus, dass die Männer Teil einer Hamas-Zelle waren, die Attacken auf drei drusische Dörfer geplant hatte. Nasreen Yousefs Mut vereitelte die gesamte Operation.
Die Drusin erhielt später eine Auszeichnung. Bei der Zeremonie sagte sie: „Ich bin keine Heldin. Ich bin eine Mutter. Ich dachte an die 127 Kinder in der Schule, an meine eigenen Kinder. Was für eine Mutter wäre ich, wenn ich nichts getan hätte?“
Die Geschichte ihrer List verbreitete sich in der drusischen Gemeinde, ein modernes Heldenepos. Junge Frauen sehen ein Vorbild in ihr. Denn sie bewies, dass man mit Intelligenz und Mut mehr erreichen kann als mit Waffen. Seitdem hat die israelische Armee ihre Zusammenarbeit mit drusischen Zivilisten intensiviert: ein direktes Ergebnis von Nasreen Yousefs Aktion.
20 Stunden harrte Thon unter Kuhdung aus
Thailändische Landarbeiter bildeten die größte ausländische Opfergruppe des 7. Oktobers. Fast 40 Thais wurden getötet, mehr als 20 entführt. Sie arbeiteten in den Kibbuzim entlang der Grenze des Gaza-Streifens, wo sie Avocados ernteten, Gewächshäuser pflegten und Kühe molken. Ihr Arbeitstag begann um halb sechs am Morgen. Als eine Stunde später die Raketen einschlugen, waren sie bereits auf den Feldern.
Am schwersten traf es den Kibbuz Alumim. Nach späteren IDF-Angaben starben dort zwölf thailändische und zehn nepalesische Arbeiter. Sie hielten sich in Industriearealen auf, ohne Zugang zu Schutzräumen, ungeschützt vom Iron Dome. Die israelische NGO Workers Hotline dokumentiert seit Jahren prekäre Bedingungen für ausländische Landarbeiter: eine Mischung aus ökonomischer Abhängigkeit und struktureller Vernachlässigung, die am 7. Oktober tödliche Folgen hatte.
Jakkrit Noiphoothorn, genannt „Thon“, überlebte in Alumim nur dank eines verzweifelten Telefonats mit seinem israelischen Arbeitgeber Michael Huller. Aus dem Schutzraum heraus riet dieser ihm, durchs Fenster zu fliehen und sich im Kuhstall zu verstecken. Zwanzig Stunden harrte Thon dort unter Kuhdung aus, während Hamas-Kämpfer die Gegend durchkämmten und seine Kollegen ermordeten.
Auch der 28-jährige Manee Jirachai überlebte. Vier Stunden lang versteckte er sich in einem Bewässerungstank. Das Wasser war eisig, oktoberkalt. Er hielt sich an einem Rohr fest, um nicht unterzugehen. Sein Kollege Korawit Kaeokoed, „Kuay“, kroch in die Zwischendecke eines Medikamentenlagers. Ihr Freund Phonsawan Pinakalo wurde als Geisel nach Gaza verschleppt und erst Ende November 2023 freigelassen.
Zwischen 7000 und 9000 Thailänder wurden zunächst mit Regierungsflügen aus Israel evakuiert. Trotzdem sind viele von ihnen nach Israel zurückgekehrt.
„Hier verdiene ich in einem Monat, was ich in Thailand in einem Jahr verdiene“, sagte Thon der „Workers Hotline“. Auch Kuay war nach wenigen Monaten zurück in Alumim. Heute arbeiten beide wieder in denselben Ställen und auf denselben Feldern, auf denen ihre Kollegen starben.
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