Als zitierfähiges Schlagwort funktioniert der „Herbst der Reformen“ ausgezeichnet. Seit Carsten Linnemann diesen Sommer im „Tagesspiegel“ besagte Jahreszeit angekündigt hat, führen Politiker und Journalisten den Ausdruck im Mund. Doch wie lässt sich dieser mit Leben füllen? Für den CDU-Generalsekretär standen vor allem die Aktivrente, Arbeitsmarktreformen sowie die Bekämpfung des Missbrauchs beim Bürgergeld im Fokus.
Während die einen Themen noch darauf warten, Gestalt anzunehmen, reihen sich von Bürokratieabbau bis zur möglichen Abschaffung des Pflegegrads 1 schon weitere politische Baustellen medial ein. Worin sollte nun der Schwerpunkt liegen? Wie lassen sich weitreichende Reformen kommunikativ verpacken – und harte Maßnahmen damit einhegen?
„The Pioneer Briefing“: „Ein bisschen unterambitioniert“
Deutlich wird die fehlende kommunikative Einigkeit zwischen SPD und Union schon im Umgang mit dem Ausdruck „Herbst der Reformen“. Matthias Miersch verwahrte sich vor drei Wochen bei „The Pioneer Briefing“ davor. Er warne, vom „Herbst der Reformen“ zu reden, erklärte der SPD-Fraktionsvorsitzende dort. An vielen Reformen seien Kommissionen beteiligt, die sich gerade erst bildeten und Zeit bräuchten. „Ich finde das ein bisschen unterambitioniert, zu sagen, wir machen nur so’n herbstlang Reformen“, sagte Lars Klingbeil ähnlich distanziert im selben Format. „Wenn es nach mir geht, ist das nicht nur ein ‚Herbst der Reformen‘, sondern auch ein Winter, ein Frühjahr, ein Sommer – und wir ziehen das so durch und machen richtig viel Tempo.“
Im Gespräch mit Alev Dogan offenbarte Klingbeil eine düstere Sicht auf Deutschland. „Wir haben eine Situation geschaffen, in der es in diesem Land keinen Spaß mehr macht, einen Verein zu führen, ein Unternehmen zu gründen oder ein Haus zu bauen. Dieser Knoten muss durchgeschlagen werden“, forderte der SPD-Vorsitzende, sonst kämen irgendwann „die mit der Kettensäge“. Speziell an Sozialstaatsreformen arbeite die Bundesregierung „sehr konkret“. „Ich habe ein Problem damit, wenn jemand Geld vom Staat erhält und sich verweigert, was zu tun. Da muss der Druck erhöht werden“, postulierte er. Seine Partei wisse er dahingehend hinter sich. „Ich gehe davon aus, dass der große Teil mir folgt.“
Lars Klingbeil habe „den Schuss erkennbar gehört“, lobte „Pioneer“-Gründer Gabor Steingart in seiner folgenden Interview-Analyse. „Er sucht nur nach einem Weg, wie sage ich es dem Kinde – und das Kinde ist die Linke der SPD.“ Hinsichtlich des „Herbst der Reformen“ gab sich der Journalist dennoch schwarzseherisch. Dieser sei „womöglich schon beendet, bevor er so richtig begonnen“ habe. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn solle bereits intern darum gebeten haben, „öffentlich doch bitte schön nicht mehr dauernd“ von diesem zu sprechen, da er wisse, dass bis Ende des Jahres nichts Große mehr gelingen werde.
„Table Tody“: Eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede wäre nötig
Unter der Leitfrage „Wie kann man Reformen verkaufen?“ begrüßte Stefan Braun den Politikberater Klaus-Peter Schmidt-Deguelle bei „Table Today“. Friedrich Merz hätte schon vor der Wahl offener kommunizieren müssen, dass die Schuldenbremse für die bröckelnde Infrastruktur und erhöhten Bedarf bei der Verteidigung gelockert werde. „Er hat es in seiner eigenen Partei schlecht vorbereitet“, beanstandete das SPD-Mitglied, „Und es war auch ein Fehler, dem Wähler nicht zu sagen, es wird möglicherweise nach der Wahl heftige Dinge geben müssen, die wir jetzt noch gar nicht benennen können.“
Den heutigen Reformbedarf verglich Schmidt-Deguelle mit der Situation vor der Agenda 2010, an deren Vorbereitung er Anfang der 2000er-Jahre als Berater von Finanzminister Hans Eichel (SPD) beteiligt gewesen war. „Es war klar, dass etwas passieren musste. So wie es jetzt auch klar ist, dass etwas passieren muss, was den Bereich Sozialstaat angeht“, erinnerte er sich bei „Table Today“. Selbst innerhalb des „technokratischen“ Finanzministerium sei ihm damals bewusst gewesen, dass zum Reformpaket ein „Überbau“ gehöre. „Die Leute müssen mitgenommen werden. Das ist meines Erachtens zu wenig passiert.“
„Nötig“ und „hilfreich“ wäre heute eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede à la Winston Churchill, die der Bundeskanzler ständig wiederholen und vorzugsweise mit einer positiven Erzählung verknüpfen sollte. So könne er etwa betonen, dass der Wohnungsbau oder die Sanierung von Schulen, Straßen und Schienen dem „persönlichen Lebensumstand“ der Menschen helfe. Potenziell missmutigen Reaktionen auf eine „Agenda 2030“, wie es Moderator Braun nannte, müsse Merz mit einer besseren Kommunikation begegnen. „Es geht nur, wenn man vermitteln kann, dass es gerechte Entscheidungen sind, dass es Entscheidungen für die Kinder, für die Enkel sind“, insistierte der politische Berater.
„Wohlstand für Alle“: Gerechtigkeit? „Eine völlig subjektive Sache“
Insbesondere die Union bemüht sich darum, ihre Reformvorhaben in einen Gerechtigkeitsdiskurs einzubetten. Carsten Linnemann bezeichnete das Bürgergeld bereits im Juni als „Chiffre für Ungerechtigkeit in Deutschland“. Beim „Herbst der Reformen“ gehe es „um nicht weniger als um Gerechtigkeit“, betonte Friedrich Merz später im Bundestag, „um einen neuen Konsens darüber, was Gerechtigkeit in unserer Zeit heute eigentlich heißt.“ Und auch Lars Klingbeil äußerte sich Anfang der Woche ähnlich im Deutschen Theater Berlin. Wenn der Satz gelten solle, dass sich Leistung lohnen müsse, „brauchen wir dringend mehr Gerechtigkeit“, erklärte der Vizekanzler.
Im Podcast „Wohlstand für Alle“ bewerteten der Philosoph und YouTuber Wolfgang M. Schmitt sowie Journalist Ole Nymoen, der sich mit seinem Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ zuletzt als Gegner der Wehrpflicht durch Talkshows gezogen ist, jenen Verkaufsansatz als „problematisch“. „Was als ungerecht oder gerecht zu gelten hat, ist eine völlig subjektive Sache. Und ganz sicher geht es in einer Marktwirtschaft nie um etwas wie Gerechtigkeit“, erklärte Nymoen.
Wer erbe, lebe besser als jemand, der auf der Nachtstation arbeite. Wer seine Einkünfte aus Aktien beziehe, zahle einen geringeren Steuersatz als Menschen auf ihren Arbeitslohn, so die linke Sicht auf die Debatte. „Wenn sich ohnehin das ganze Volk permanent fragt, wer wie viel verdient, dann kann man das wunderbar nutzbar machen, um die Ärmsten gegeneinander auszuspielen“, kritisierte Schmitt, der als Filmkritiker bekannt ist, die Diskussion. „Denn darum geht es vor allem in diesen Gerechtigkeitsdebatten.“
Statt um Bürgergeld-Empfänger sollte sich der Diskurs um das Exportmodell der deutschen Wirtschaft drehen, das Schmitt mit Blick auf den zunehmenden Protektionismus als „nichts besonders zukunftsfähig“ charakterisierte. Volkswirtschaftlich liege ein „unglaublich fatales Denken“ zugrunde, wenn die Regierung annehme, mit den Reformen das strukturelle Problem Deutschlands zu lösen. „Selbst wenn die der Meinung wären, man könnte wie in den Nachkriegsjahrzehnten durch kluge staatliche Politik ein großes Wachstumsmodell schaffen“, ergänze Nymoen polemisch. „Wenn es Leute gibt, denen man das nicht zutraut, dann sind es Lars Klingbeil, Friedrich Merz, Bärbel Bas und Co.“
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