„Es war kein Zufall, dass mit Herrn T. im ersten Prozess ein Unschuldiger zum Mörder gemacht wurde.“ Das sagte Rechtsanwalt Yves Georg, aus Hamburg in die tiefste oberbayerische Provinz angereist, als Verteidiger im sogenannten „Eiskeller“-Verfahren. Und das war erst der Anfang seines ungewöhnlichen und ungewöhnlich scharfen Eröffnungsstatements.
In dem Verfahren geht es um den Tod der Studentin Hanna W. in der Nacht auf den 3. Oktober 2022 nach einem Besuch in der Diskothek „Eiskeller“ in Aschau im Chiemgau. Sie hatte mit Freunden gefeiert und war gegen halb drei allein zu Fuß nach Hause aufgebrochen. Dort kam sie aber nicht an. Am nächsten Tag fand ein Spaziergänger ihre Leiche zwölf Kilometer entfernt am Ufer des Flusses Prien. Am Kopf hatte sie mehrere Verletzungen. Die Kleidung fehlte teilweise.
Sebastian T. war im ersten Prozessdurchgang im vergangenen Jahr wegen Mordes zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Anwalt Georg und die Münchner Strafverteidigerin Regina Rick fochten das Urteil beim Bundesgerichtshof erfolgreich an. Am Montag begann der zweite Prozessdurchgang.
Die Staatsanwaltschaft ist von T.s Schuld jedenfalls bisher weiter überzeugt. Der sei auf einer nächtlichen Joggingrunde gewesen, als die 23-jährige Hanna W. die Diskothek verließ und sich zu Fuß auf den Heimweg machte. Er habe sie verfolgt und „verletzte sie im Bereich der Kampenwandstraße, indem er sie aus sexuell motivierten Gründen von hinten angriff und zu Boden brachte“, heißt es in der von der Staatsanwaltschaft verlesenen Anklage. Mit den Knien habe T. sich „wuchtig“ auf ihre „Schulterpartie“ gesetzt und mit einem „stumpfen Gegenstand“ mindestens fünfmal auf ihren Kopf eingeschlagen.
Eine Tatwaffe ist allerdings nie aufgetaucht. Zeugen der Tat gibt es auch nicht. Das „Eiskeller“-Verfahren ist ein reiner Indizienprozess. „Keiner von uns war dabei“, stellte die Vorsitzende Richterin Heike Will fest, die jetzt den zweiten Prozessdurchgang leitet. „Keiner von uns weiß, was in dieser Nacht passiert ist.“ Das müsse wieder mit Akribie und Sachverständigen in der neuen Beweisaufnahme geklärt werden.
Notwendig geworden ist die Neuauflage, weil der Bundesgerichtshof das erste Urteil kassiert hatte und anordnete, es müsse komplett neu von vorn verhandelt werden. Grund dafür waren der Umgang mit einem Zeugen und eine vertrauliche E-Mail-Absprache der damaligen Vorsitzenden Richterin Jacqueline Aßbichler und dem Staatsanwalt Wolfgang Fiedler. Bei dem Zeugen handelte es sich um einen Mithäftling T.s in der U-Haft.
Der meldete sich, als der erste Prozess schon weit fortgeschritten war und sagte, T. habe ihm den Mord an Hanna W. gestanden. In E-Mails und abseits der Verhandlung diskutierte Aßbichler mit dem Staatsanwalt, wie dessen Aussage für einen Schuldspruch verwertet werden könne. Hinzu kommt, dass der Zeuge bei Aßbichler vor Gericht stand, wegen eines Sexualdelikts. Er leidet außerdem an einer Borderline-Störung. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten gab die Richterin aber nicht in Auftrag.
Ausreichende Verdachtsmomente für Befangenheit
Allerdings entdeckte Verteidigerin Rick die Mails zufällig in einer Nebenakte und stellte daraufhin einen Befangenheitsantrag gegen Aßbichler. Den lehnte die Jugendkammer des Landgerichts Traunstein ab – unter Vorsitz von Richterin Will, die jetzt das neue Verfahren führt. Nach dem ersten Urteil beantragten Rick und der als Revisionsspezialist hinzugezogene Anwalt Georg Revision. Der Bundesgerichtshof gab ihnen recht und sah ausreichende Verdachtsmomente für Befangenheit.
Daraus müsse die bayerische Justiz Lehren ziehen, verlangte Georg in seiner Eröffnungs-Erklärung am Montag. Er zitierte aus einem TV-Interview Aßbichlers: Einem lokalen Sender im Chiemgau hatte sie auf die Frage, ob sie sich in ihrem Richterleben schon einmal geirrt habe, geantwortet – und Anwalt Georg verlas die gesamte Passage: „Es hat einmal einen Moment gegeben, wo ich wusste, dass der Angeklagte schuldig war – aber wir mussten ihn freisprechen. Das war schwierig. Weil die Beweislage so schlecht war, die Beweislage war so, dass das nie gehalten hätte beim Bundesgerichtshof. Das war aber wirklich auch schwierig die Beweislage, es war halt einfach Aussage gegen Aussage in einem psychiatrischen Umfeld. Das war echt schwierig. Wir wussten, dass er es war – aber wir konnten es ihm nicht beweisen. Das war hart.“
Eine Lehre hatte die neue Richterin Will schon von sich aus gezogen und ein Gutachten zur Glaubwürdigkeit des Haft-Zeugen in Auftrag gegeben. Das liegt auch schon vor und wird in der Beweisaufnahme eingeführt werden. In Grundzügen ist es öffentlich bekannt. Es kommt zu dem Ergebnis, dass seiner Aussage kein echtes Erleben zugrunde liege und sie damit als Beweis wertlos sei. Will hob daraufhin den Haftbefehl gegen T. auf, der – anders, als beim ersten Mal – als freier Mann ins Gericht spazierte.
Anwältin Rick stellte am Montag außerdem Befangenheitsanträge gegen drei Gutachter, darunter zwei Rechtsmediziner der Uni München. Sie begründet den Schritt unter anderem damit, dass der Direktor des rechtsmedizinischen Instituts bei einem Treffen der Rotarier im Chiemgau einen Vortrag gehalten und sich trotz laufenden Verfahrens dazu geäußert habe. Er habe sinngemäß gesagt, „alle bescheinigten den Beteiligten und dem Gericht eine äußerst akribische Vorgehensweise“. Staatsanwalt Christian Merkel, den die Anklagebehörde neu in das Verfahren schickte, widersprach mit der Anmerkung, „akribisch“ sei ja nicht dasselbe wie „gut“.
Der neue Prozess wird voraussichtlich ähnlich umfangreich wie der erste. Das Gericht terminierte vorerst 25 Verhandlungstage bis zum Jahresende.
Christoph Lemmer berichtet für WELT als freier Mitarbeiter vor allem über die Politik in Bayern.
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