Tilman Kuban, 38, ist Sprecher der Arbeitsgruppe Angelegenheiten der Europäischen Union in der Unionsfraktion. Der CDU-Politiker war bis 2022 Bundesvorsitzender der Jungen Union.
WELT: Herr Kuban, Kanzler Friedrich Merz (CDU) sagt, Klimaschutz bedrohe die industrielle Basis, und fordert „Ideologiefreiheit“. In der EU gelang bislang keine Einigung auf ambitionierte Ziele für die Klimakonferenz in Brasilien. Erleben wir die verblümte Absage an die Klimaneutralitätsziele 2045 für Deutschland und 2050 für die EU?
Tilman Kuban: Als die Klimaziele vereinbart wurden, hatten wir eine andere Weltlage. Wir sparten bei unserer Sicherheit, vertrauten auf günstiges Gas aus Russland und hatten boomende chinesische und amerikanische Märkte. In dieser Gemengelage konnten gerade die Großunternehmen die Transformation selbst finanzieren. All das ist Geschichte und wird auch nicht zurückkehren.
Es gibt jetzt drei Möglichkeiten: Wir ziehen die Ziele knallhart durch und riskieren eine Deindustrialisierung. Wir finanzieren alles über weitere staatliche Schulden und schaffen französische Haushaltsverhältnisse. Oder wir passen die Ziele der neuen Realität an, werden klimafreundlicher, aber bleiben dabei Industrieland. Ich plädiere für Letzteres.
WELT: Was schlagen Sie vor statt 2045?
Kuban: Wir sind jetzt bei einer Emissionsreduktion von etwa 50 Prozent und haben viel getan für den Klimaschutz. Wenn wir bis 2045 80 Prozent schaffen, wäre das großartig. Erst dann sollten wir neu diskutieren, wie wir mit den restlichen 20 Prozent verfahren und zu welchen Kosten. Die Kernfrage ist doch, ob wirklich die Welt untergeht, nur weil in Deutschland noch ein paar Kohleöfen laufen, um Stahl zu produzieren, oder weil hier noch ein paar Verbrenner auf der Straße fahren und möglicherweise noch nicht jedes Haus vollständig gedämmt ist. Es gilt das Pareto-Prinzip: Die ersten 80 Prozent eines Vorhabens sind gut zu erreichen, die letzten 20 Prozent sind wahnsinnig teuer. Deswegen sage ich: Es ist ausreichend, wenn wir 2045 zu 80 Prozent klimaneutral sind und dafür Wohlstand und Demokratie erhalten haben – das ist im globalen Vergleich immer noch sehr ambitioniert.
WELT: Was wollen Sie konkret abräumen?
Kuban: Die Politik muss davon abrücken, die Wirtschaft zur kompromisslosen Emissionsvermeidung zu zwingen, koste es, was es wolle. Die kostenfreien Zertifikate in der Industrie müssen bleiben, und statt eines Verbrenner-Verbots sollte man als Ziel festschreiben, 80 Prozent der Flotten zu dekarbonisieren – gerade große und schwere Fahrzeuge kommen dann erst später.
WELT: Braucht die Industrie nicht den Druck harter CO₂-Ziele, um vor Wettbewerbern wie China grüne Innovationskraft zu entfalten, sodass in einer späteren, CO₂-neutralen Welt Deutschland die grünen Leittechnologien verkauft statt zu importieren?
Kuban: Es geschieht doch das Gegenteil. Produktion wird aus Deutschland abgezogen, der Stahl wird dreckiger als vorher im Ausland produziert, und dann werden die fertigen Produkte importiert. Für das Klima ist nichts erreicht, aber Industriearbeiter in Deutschland werden auf die Straße gesetzt, finden keinen so gut bezahlten Job mehr und laufen dann aus Frust in die Arme der Rechtspopulisten. Abgesehen von den Wohlstandseinbußen ist diese Politik eine Gefahr für die Demokratie.
WELT: Wollen Sie lieber dreckigen Stahl in Deutschland produzieren, anstatt ihn mit Zöllen draußen zu halten und hier den Umbau-Pfad weiter zu beschreiten?
Kuban: Es gibt Stahlprodukte, die gut mit Elektroöfen produziert werden können. Aber man muss darüber nachdenken, bestimmte Produkte von den Klimazielen auszunehmen. Es gibt kein Industrieland der Welt ohne eigene Stahl-Produktion. Mit der Abwanderung ins Ausland gefährden wir auch unsere Resilienz: Denn ohne Stahl werden wir aus eigener Kraft weder Windkraftanlagen noch Panzer bauen.
WELT: Aus Ihrer Analyse – weggebrochenes russisches Gas, US-Zölle, Autokrise, Notwendigkeit der Resilienz – kann man auch ableiten: Gerade deshalb müssen wir den grünen Umbau forcieren, damit Deutschland schnell unabhängig von Energieimporten wird, schnell neue Geschäftsfelder erschließt, von grüner Industrietechnologie bis hin zu E-Autos.
Kuban: Unser Ziel bleibt es, unabhängig von Energieimporten zu werden und das Land möglichst rasch zu elektrifizieren. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir die Transformation auf einen längeren Zeitraum strecken müssen, weil sich die Rahmenbedingungen so fundamental verändert haben. Ich bin sicher: Irgendwann wird der Großteil der Autos elektrisch fahren. Nur, wenn allein im letzten Jahr 50.000 Jobs in der Autoindustrie verloren gegangen sind, dann brauchen wir jetzt weniger Vorgaben und mehr Zeit.
Die Strategie von Toyota beispielsweise lautet: ein Drittel Verbrenner, ein Drittel Hybrid, ein Drittel batterieelektrische Fahrzeuge. Und in Europa will man den Verbrenner komplett verbannen, obwohl es dafür noch einen Markt gibt. Die Konsequenz ist, dass VW ein Nutzfahrzeuge-Werk in der Türkei baut, um dort den Crafter – auch als Verbrenner – zu bauen. Ist das im Sinne des Facharbeiters in Wolfsburg oder Hannover? Oder im Sinne des Klimaschutzes?
WELT: Ihr Koalitionspartner wird das nicht mitmachen; Umweltminister Carsten Schneider (SPD) hat gerade in der Koalition der Hoch-Ambitionierten das 1,5-Grad-Ziel bekräftigt.
Kuban: Viele Arbeiter sehen das anders, und für die will die SPD schließlich Politik machen. Außerdem müssen wir alle uns der Realität in Europa stellen. Was ich von meinen Kollegen aus Frankreich, Polen, Italien oder aus osteuropäischen Staaten höre, ist da sehr eindeutig: Auch das EU-Klimaziel 2050 wird unter heftigen Druck geraten. Es wäre ratsam, wenn Deutschland hier die Augen öffnen und sich nicht isolieren würde, sondern wir in Europa an einem Strang ziehen. 80 Prozent Klimaschutz mit Wohlstand und Demokratie sind besser als 100 Prozent mit leeren Werkshallen.
Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.
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