Als der Reisebus aus Tallinn frühmorgens auf den Petersplatz in Estlands drittgrößter Stadt Narwa rollt, wird es gerade hell. Hinter dem Platz strömt der Narwa-Fluss vorbei, blaurosa von der Morgensonne gefärbt. Er markiert die Ostgrenze von Estland, EU und Nato. Auf der anderen Seite liegt Russland, nicht mal hundert Meter entfernt. Am Ufer stehen sich zwei Festungen gegenüber, wie verfeindete Bastionen, sinnbildlich in der heutigen Zeit.

Die Passagiere im Bus reiben sich die Augen, als Fahrer Sergej das Licht anknipst. „Wir haben den Grenzübergang erreicht. Ich hoffe, Sie konnten gut schlafen und Kräfte sammeln. Die werden sie brauchen“, brummt er in sein Mikrofon. Der Bus hält vor einem Klinkerbau, dem estnisch-russischen Grenzübergang. Der öffnet erst um sieben, doch vor den verschlossenen Eingängen warten bereits dutzende Menschen. Es sind Russen aus ganz Europa. Sie möchten heute die Narwa überqueren, zu Fuß, einmal über die Brücke, nach Russland.

Obwohl die Differenzen der Europäer mit Russland größer sind als je zuvor, bleibt es ein Nachbar. Und noch immer bestehen viele grenzüberschreitende Verbindungen: Im früher sowjetischen Baltikum leben eine Million Russen, in Frankreich sind es eine halbe Million. In Deutschland geht man aufgrund der sogenannten Russlanddeutschen von etwa zwei Millionen Russen und russisch sozialisierter Spätaussiedler aus. Viele von ihnen haben Verbindungen in das Land jenseits des Narwa-Flusses.

Verschlafen steigen die Russen aus dem Bus. Der Grenzübertritt wird viele Stunden dauern. Die Jüngeren haben Schnaps dabei, die Älteren Klappstühle. Bei Regen gibt es keinen Unterstand, bei einem Bedürfnis keine Toilette in der Nähe. Aber da es keine direkten Flüge mehr gibt und Verbindungen über Kairo oder Istanbul teuer sind, queren viele Menschen die Landgrenze, um nach Russland zu gelangen.

Hier stehen Europas Russen, die Verwandte und Freunde besuchen, nach Hause reisen oder Behördliches erledigen müssen. Narwa ist ein Nadelöhr, einer von zehn verbliebenen Grenzübergängen zwischen Russland und der EU, viele arbeiten nur noch eingeschränkt.

Auch falsche Bärte sind Sanktionsware

Pünktlich um sieben Uhr sperrt Erik Purgel die Pforten des Klinkerbaus auf. Der 35-Jährige ist Leiter des Grenzschutzbüros und verantwortlich für die sogenannte „Brücke der Freundschaft“, die nach Russland hinüberführt. Vor einigen Jahren querten hier noch Busse und Autos die Grenze, sogar ein Radwegschild steht noch, dass Fahrradtouristen einst den Weg nach Russland wies. Heute liegen Stacheldrahtrollen und Panzersperren auf der Fahrbahn, nur noch ein enger Korridor für Fußgänger ist passierbar.

„Die Leute beschweren sich, dass sie so viele Stunden anstehen müssen“, erzählt Purgel. „Das können wir aber nicht ändern. Wir müssen sicherstellen, dass keine sanktionierten Güter nach Russland gelangen.“ Estland hatte im Frühjahr 2024 eine lückenlose Zollkontrolle eingeführt. Jeder, der nach Russland will, wird aufwendig durchsucht.

Deshalb seien die Kontrollen zeitintensiv, gerade, wenn die Menschen viel Gepäck dabeihätten, so Purgel. „Trotzdem findet man die verrücktesten Sachen in den Koffern: Wein für viertausend Euro, Smart-TVs, wegen der Halbleiter, Waffenteile, Motoröl.“ Verboten sind auch Dinge wie Gerbextrakte oder Fingerabdruckpulver, Toilettenpapier, falsche Bärte oder Spazierstöcke.

Estland hat eine 300 Kilometer lange Grenze zu Russland und keine guten Erfahrungen mit dem großen Nachbarn. Es erklärte sich erstmals 1918 für unabhängig, wurde aber 1940 von der Sowjetunion annektiert. Im Jahr 1991 folgte die zweite Unabhängigkeitserklärung.

Estland hat einen bemerkenswerten Umgang mit seinem Nachbarn gefunden. Im Gegensatz zu Deutschland begann die Entkopplung nicht erst mit der russischen Vollinvasion im Februar 2022. Denn Moskau betrachtet das Land noch immer als Teil seiner Einflusssphäre, mischt sich mit Geld, Desinformation, Kulturkampagnen und Energiepolitik in innerstaatliche Angelegenheiten ein. Im Jahr 2007 wurde Estland von einem groß angelegten Cyberangriff lahmgelegt. Immer wieder wurden russische Agenten in der estnischen Politik enttarnt.

Deutschland sah den russischen Nachbarn deutlich gelassener: als Partner, der sich mit finanziellen Anreizen und Handel aufs europäische Gleis setzen lassen würde. Als Nordstream 2 im Jahr 2015 an den Start ging, hatte Putin bereits die Krim annektiert. Die Warnungen osteuropäischer Politiker, etwa vom ehemaligen estnischen Außenminister Sven Mikser, verhallten in Angela Merkels Deutschland.

Und während im estnischen Internet schon Freiwillige gegen Putins Desinformationskampagnen anschrieben, traten deutsche Politiker noch beim russischen Auslandsfernsehen Russia Today auf.

Immer mehr russische Touristen in Deutschland

Für Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern und seiner wesentlich schwächeren Wirtschaft ist die Entflechtung von Russland besonders schwierig, es kann Sanktionsfolgen nur schlecht abfedern. Schon seit 2022 beziehen die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen keinen günstigen russischen Strom mehr, im Februar dieses Jahres kappten sie die Verbindungen ganz und schlossen sich dem kontinentaleuropäischen Netz an.

Hinzu kommen steigende Kosten durch Verteidigungsausgaben. Im Juli wurde die Mehrwertsteuer schon zum zweiten Mal angehoben, aber die Mehrheit der Esten nimmt das in Kauf.

Unter den Nato-Beitragszahlern liegt Estland mit 3,43 Prozent des BIP nach Polen auf dem zweiten Platz und deutlich vor Deutschland, das gerade einmal das Zwei-Prozent-Ziel erreicht. Parallel entsteht bei Narwa eine Nato-Militärbasis in direkter Grenznähe.

Die estnische Wirtschaft ist schwer getroffen. Das Handelsvolumen mit Russland ist um 90 Prozent eingebrochen, die geografische Nähe zum Aggressor schreckt Investoren ab. Außerdem lässt Estland keine russischen Touristen mehr ins Land, im Gegensatz zu Deutschland, wo die Zahl der an Russen ausgestellten Schengen-Visa im vergangenen Jahr sogar wieder anstieg.

Für Estland bedeutet das Einreiseverbot, dass Kurorte, Hotels und Einkaufszentren in Grenznähe, die früher vornehmlich von Russen besucht wurden, leer stehen. Die Inflationsrate ist deutlich höher als in Deutschland, zwischenzeitlich lag sie bei fast zwanzig Prozent. Hinzu kommen eine hohe Arbeitslosigkeit und die teilweise Verarmung der Bevölkerung.

Was es auch kostet, ein Krieg mit Russland ist teurer

Auch Sprache und Kultur sind Teil der Entflechtung. Bis 2029 soll das gesamte Bildungssystem auf Estnisch umgestellt werden. Die russische Sprache soll an Bedeutung verlieren, denn über sie nimmt Russland Einfluss. Deshalb sind russische Fernsehsender deutlich strenger reguliert als in Deutschland. Trotzdem ist die Regierung in Tallinn im Umgang mit der großen russischen Minderheit vorsichtig. Deswegen hat Estland die Grenze nicht komplett geschlossen, wie etwa Finnland das tat.

Der Vergleich mit Deutschland zeigt, wie viel ernster die russische Bedrohung in Estland genommen wird. Dies zeigen auch Umfragen, ob die Menschen im Ernstfall bereit wären, ihr Land zu verteidigen. Während in Deutschland nur 16 Prozent zustimmten, waren es in Estland 60 Prozent. Auch ist die allgemeine Bereitschaft in Estland höher, Einbußen in Kaufkraft und Lebensqualität im Sinne der Sicherheit hinzunehmen. Dahinter steht die Einsicht, dass die Kosten, so hoch sie auch sind, bei einem Krieg mit Russland unendlich viel höher wären.

Sind Geräte zur Kreuzotterabwehr erlaubt?

Es ist Mittag, inzwischen wartet vor dem Grenzübergang eine Gruppe von sechzig Leuten. Rauchende Väter und quengelnde Kinder stehen gelangweilt herum. In Facebookgruppen tauschen sie sich über lange Wartezeiten oder besondere Vorkommnisse aus. „Meine Tochter musste am Zoll ganz schnell ihr Eis aufessen, Milchprodukte dürfen nicht über die Grenze“, schreibt dort eine Diana. Ob man ein Gerät zur Kreuzotterabwehr nach Russland einführen dürfe oder ob das Sanktionsware sei, fragt eine Ljubow. Die Wartenden sind unruhig, denn um 23 Uhr schließt der Grenzposten. Wer bis dahin nicht hinüber gelassen wurde, hat Pech gehabt und bleibt in Estland.

Purgel, der Leiter des Grenzschutzbüros, deutet auf ein Häuschen in der Brückenmitte: „Dort treffen wir uns mit den russischen Beamten, wenn es Gesprächsbedarf gibt.“ Etwa bei illegalen Grenzüberquerungen oder Festnahmen. „Kommt es zu einem Vorfall, senden wir uns ein Fax“, sagt Purgel lachend. Daran habe sich seit 1991 nichts geändert.

Julius Fitzke ist seit Juli 2025 Volontär bei der WELT im Ressort Außenpolitik.

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