Den Ton für seinen Antrittsbesuch in Deutschland hat Polens Präsident Karol Nawrocki bereits vor mehr als zwei Wochen gesetzt. Während einer Rede bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs auf der Halbinsel Westerplatte bei Danzig sagte er: „Um eine Partnerschaft mit unserem westlichen Nachbarn aufzubauen, die auf Wahrheit und guten Beziehungen beruht, müssen wir endlich die Frage von Reparationen vom deutschen Staat klären, die ich als Präsident Polens zum Wohle aller ganz klar fordere.“

Auch der mächtige Vorsitzende der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, äußerte sich am 1. September zu Deutschland: Es sei ein „Post-Nazi-Land“, denn es habe Verbrecher nicht bestraft, ein System geschaffen, „in dem Verbrecher nicht nur nicht bestraft wurden, sondern politische Karrieren machen konnten“. Ein weiterer Grund, warum man Deutschland „Post-Nazi-Land“ nennen dürfe: Es habe, so Kaczynski, geschädigten Ländern nie Reparationen gezahlt.

„Kriegsreparationen“ – die werde Nawrocki während seines Besuchs bei Frank-Walter Steinmeier einfordern, erklärte Nawrockis Sprecher Rafal Leskiewicz. Am Dienstag ist Polens neuer Präsident in Berlin neben seinem Amtskollegen auch mit Kanzler Friedrich Merz zusammenkommen. Der 42-jährige Nawrocki, der von der PiS ins Rennen geschickt und am 1. Juni in einer Stichwahl mit einer knappen Mehrheit von 50,9 zu 49,1 Prozent der Stimmen ins Präsidentenamt gewählt wurde, wollte noch am selben Tag weiter zu Emmanuel Macron nach Paris fliegen.

In Berlin waren keine Interviews angesetzt, keine Pressekonferenzen oder andere öffentliche Termine. Es ist vielsagend, dass vorab Weltkriegsreparationen in den Mittelpunkt des Verhältnisses beider Länder gerückt werden. Das Thema belastet das deutsch-polnische Verhältnis schon lange; tatsächlich fordert auch die polnische Regierung von Premier Donald Tusk Entschädigungen für von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs begangene Verbrechen. Damit entspricht sie dem Mehrheitswillen in der polnischen Bevölkerung.

Mithin sprechen Angehörige der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) Tusks von „Wiedergutmachungen“, nicht von „Reparationen“, und treten zurückhaltender in der Sache auf. Die PiS indes bezieht sich meist auf einen Bericht, der 2022 von einer Parlamentskommission erstellt wurde. Darin werden die Schäden auf umgerechnet 1,3 Billionen Euro beziffert. Es ist denkbar, dass der Historiker Nawrocki darauf Bezug nimmt.

Moskaus hybrider Krieg als gemeinsame Herausforderung

„Die Frage der Reparationen ist rechtlich abgeschlossen“, sagte zuletzt Knut Abraham, Polen-Beauftragter der Bundesregierung, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Auch der CDU-Politiker Paul Ziemiak bekräftigte die Position der Bundesregierung zu den polnischen Reparationsforderungen. „Diese Frage ist für uns rechtlich bereits geklärt, aber wir wissen um unsere Verantwortung“, sagte der Chef der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe im Berlin Playbook Podcast von „Politico“.

Abraham sprach jedoch gleichzeitig von einer „modernen Übersetzung der Verpflichtung Deutschlands“ – und verweist so über den Umweg der Entschädigung auf Probleme und Herausforderungen, vor denen die Partnerländer Deutschland und Polen heute gemeinsam stehen. An erster Stelle ist da Russlands Krieg in der Ukraine zu nennen und der hybride Krieg, den Moskau gegen das übrige Europa führt. Besonders betroffen davon ist nicht zuletzt Polen, das größte Land an der Nato-Ostflanke.

Erst in der vergangenen Woche drangen mindestens 19 russische Drohnen in den polnischen Luftraum ein. Polnische und alliierte Abfangjäger mussten die Fluggeräte teilweise abschießen. Das, aber auch andere, drängende Großthemen wie die Migration, die Energietransformation oder die Wettbewerbsfähigkeit in Europa werden von der von Nawrocki nun wieder aufgeworfenen Reparationsfrage überschattet.

Offen ist, inwieweit der Präsident damit Außenpolitik im Sinne der polnischen Innenpolitik betreibt, also vor allem seine Wähler anspricht. Das ist es, was viele Beobachter vermuten. Gleichzeitig aber wäre es nicht das erste Mal, dass Nawrocki, vormals Direktor des staatlichen Instituts für Nationales Gedenken (IPN), das Verhältnis zu einem Partnerland zuvorderst durch die Brille der Geschichte betrachtet.

Nawrocki agitierte gegen die Ukraine

Die Beziehungen Polens zur Ukraine definiert er stark durch die Massaker von Wolhynien und Ostgalizien. Dabei wurden ab 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu 100.000 polnische Zivilisten von ukrainischen Nationalisten barbarisch umgebracht. Für die von Russland überfallene Ukraine fand Nawrocki, anders als andere polnische Politiker, kaum Worte der Solidarität. Im Wahlkampf agitierte er sogar gegen die Ukraine und die ukrainische Minderheit in Polen.

Das unterscheidet Nawrocki wesentlich von dessen Vorgänger Andrzej Duda. Der inszenierte seine Männerfreundschaft mit Wolodymyr Selenskyj öffentlich und wurde für seine Unterstützung für das angegriffene Land zum Beispiel auf den Straßen von Lwiw gefeiert. Auch war Duda trotz aller Streitigkeiten im deutsch-polnischen Verhältnis immer um ein gutes Verhältnis zu Steinmeier bemüht.

Dass der Bundespräsident bei den Gedenkveranstaltungen in der Kleinstadt Wielun und anlässlich des Aufstands im Warschauer Getto sprechen durfte, war keine Selbstverständlichkeit. Ob auch Steinmeier und Nawrocki ein einigermaßen auskömmliches Verhältnis werden etablieren können, bleibt abzuwarten.

In Berlin indes scheinen viele im Verhältnis zu Polen nicht auf den Präsidenten, sondern die Regierung setzen zu wollen. Mit dem proeuropäischen Tusk sieht die Bundesregierung zurecht mehr Gemeinsamkeiten. Die Partei des Regierungschefs, PO, wie auch dessen Koalitionspartner, die Bauernpartei (PSL), sind wie die CDU und CSU im Europaparlament in der Europäischen Volkspartei (EVP) organisiert. Die Regierung ist bestimmend für Polens Europapolitik und die Beziehungen zu den europäischen Partnern.

Tatsächlich aber teilt sie sich die Exekutive mit dem Präsidenten, der eine herausgehobene Stellung im Verhältnis zu den USA innehat. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte kommt ihm dazu noch eine besondere Rolle in Fragen der nationalen Sicherheit zu. Das verschafft ihm, zumal in den USA, Gewicht; Polen ist der weltweit größte Abnehmer amerikanischer Rüstungsgüter.

Schwierig ist die Kohabitation zwischen Präsident und Regierung aber nicht nur wegen der nicht trennscharfen Abgrenzung in der Exekutive. Nawrocki tritt – ähnlich wie Duda – als Blockierer der Regierungspolitik auf. Obwohl er erst am 6. August vereidigt wurde, hat er bereits von seinem Veto gegen eine Gesetzesnovelle Gebrauch gemacht, die Hilfen für und den Status von Ukrainern in Polen betrifft. Beobachter erwarten, dass Nawrocki so die Reformpolitik Tusks nach Kräften behindern wird, um einer Rückkehr der PiS an die Regierung 2027 Vorschub zu leisten.

Allein Nawrockis Wahl im Juni hatte Tusk zu einer Regierungsumbildung veranlasst. In Umfragen ist seine Koalition unbeliebt. Das und Nawrockis Blockadepolitik haben Tusk zu Hause bereits geschwächt. Die internationale Stellung Polens als eines der Schlüsselländer Europas gerade in der Ukraine-Politik hat gelitten.

Wer möchte, kann Nawrockis Entscheidung, Berlin und Paris an einem Tag zu besuchen, als spiegelbildliche Aktion von Merz und als Bekenntnis zum Weimarer Dreieck – der Abstimmung der Politik Deutschlands, Frankreichs und Polens – deuten. Merz war nach seinem Amtsantritt im Mai dieses Jahres zuerst in Paris und dann in Warschau gewesen, was von der polnischen Regierung goutiert wurde.

Nawrockis erste Reise allerdings führte ihn zu Donald Trump nach Washington, die zweite zu Papst Leo XIV. Die erste EU-Regierungschefin, die Nawrocki traf, war die Italienerin Giorgia Meloni, eine Rechtsnationale. Es ist Symbolpolitik – eine, die in Berlin und Paris durchaus wahrgenommen wurde.

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

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