Schlagstöcke und Messer in Heiligenhaus: Rund 30 Männer zweier deutsch-libanesischer Großfamilien gingen aufeinander los. Dabei wurden mehrere Menschen verletzt, ein Mann schwebte zunächst in Lebensgefahr. Auslöser war die Trennung eines Paares. In Essen rückte die Polizei mit Hunderten Beamten aus, um Shisha-Bars und Spielhallen zu durchsuchen, in denen sie illegales Glücksspiel und unversteuerten Tabak vermutete.
Solche Szenen zeigen, wie vielfältig Clan-Kriminalität in Nordrhein-Westfalen auftritt: mal als brutale Straßenschlacht mitten im Wohnviertel, mal als stille, aber lukrative Geschäftspraxis hinter neonbeleuchteten Fassaden.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte als Reaktion auf solche kriminellen Umtriebe bereits vor Jahren die „Politik der 1000 Nadelstiche“ ausgerufen: Ständige Razzien, Kontrollen und Vermögensabschöpfungen sollen den Clans den Alltag erschweren und sie dauerhaft unter Druck setzen.
Nach eigenen Angaben haben die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden seit 2018 so fast 4000 Kontrollen in mehr als 9000 Wettbüros, Spielcasinos und Shisha-Bars durchgeführt. Dabei fertigten sie über 5300 Strafanzeigen, verhängten mehr als 19.000 Verwarngelder und stellten in Ermittlungsverfahren 22 Millionen Euro krimineller Vermögenswerte vorläufig sicher. Reul erklärt gegenüber WELT: „Clan-Kriminalität hat in Nordrhein-Westfalen keinen Platz. Wir setzen auf Prävention, Repression und Finanzermittlungen.“
Das aktuelle „Lagebild Clan-Kriminalität“ aus dem Jahr 2023 zeigt die Dimension des Problems. Rund 7000 Straftaten wurden als clanbezogen registriert, 4213 Tatverdächtige ermittelt. Die Polizei zählte 423 Razzien und kontrollierte 1138 Objekte. Mehr als 600 Strafanzeigen wurden geschrieben, mehr als 1000 Verwarngelder verhängt, 225 Betriebe geschlossen.
Damit stiegen die Zahlen erneut leicht an, obwohl die Polizei seit Jahren starke Präsenz in diesem Bereich zeigt. Reul verweist dabei auf verbesserte Ermittlungen und ein gestiegenes Anzeigeverhalten: „Wir haben Strukturen zerschlagen und den Tätern Geldquellen entzogen.“
Zugleich verschiebt sich das Bild. Während Tumultlagen im öffentlichen Raum stark zurückgegangen sind – 2018 waren es noch 179, im vergangenen Jahr nur noch 19 –, stehen heute neue Gruppen im Fokus. Besonders syrische Clan-Strukturen versuchen aktuell, im Ruhrgebiet Fuß zu fassen. In Essen wurde deshalb bereits eine eigene Ermittlungsabteilung geschaffen.
Generell ist die Herkunft der Tatverdächtigen auffällig. Gut die Hälfte, 2183 Personen, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Daneben fallen vor allem Syrer (770), Libanesen (580) und Türken (407) ins Gewicht. 219 Verdächtige haben eine ungeklärte Staatsangehörigkeit, 54 gelten als staatenlos. Doppelstaatler werden im Lagebild 2023 unter deutscher Staatsangehörigkeit geführt. Erst im nächsten Lagebild für das Jahr 2024, das voraussichtlich Ende 2025 erscheint, soll die von Innenminister Reul angestrebte gesonderte Erfassung dieser Gruppe berücksichtigt werden.
„Man muss die Frauen emanzipieren“
Für den Clan-Experten und Islamwissenschaftler Ralph Ghadban ist klar: „Clan-Kriminalität ist kein reines Polizeiproblem, sondern in erster Linie ein Integrationsproblem.“ Die Strukturen beruhten auf familiärer Loyalität, die ein Aussteigen praktisch unmöglich mache.
Um diese Solidarität aufzubrechen, müsse der Staat gezielter ansetzen – vor allem bei den weiblichen Mitgliedern des Clans. „Man muss die Frauen emanzipieren. Zwangs- und Minderjährigen-Ehen müssen konsequent verfolgt werden“, sagt Ghadban WELT. Aus seiner Sicht ist gerade die Unterdrückung von Frauen innerhalb von Großfamilien einer der Hauptgründe, die das Clan-Wesen stabil halten.
Ebenfalls kritisch sieht Ghadban den Einfluss sogenannter Friedensrichter: Immer wieder würden Clan-Konflikte außerhalb des deutschen Rechtsstaates geregelt, oft mit Kompensationszahlungen und auf Basis eigener Normen. „Diese Parallelstrukturen sind mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar.“
Auch er stellt im Ruhrgebiet eine neue Dynamik fest: Syrische Großfamilien, die in den vergangenen Jahren eingewandert sind, träten immer stärker in Konkurrenz zu etablierten libanesischen Clans. In Städten wie Essen, Duisburg oder Gelsenkirchen komme es immer wieder zu Reibereien, weil neu entstandene Netzwerke um Einfluss in den Bereichen Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Glücksspiel kämpften. Für Ghadban bestätigt das eine seiner zentralen Prognosen: „Je größer die Zuwanderung aus Regionen mit stark ausgeprägten Clan-Strukturen, desto schneller etablieren sich auch in Deutschland neue Familienverbände.“
Thomas Ganz, früher Ermittler beim Landeskriminalamt Niedersachsen mit Fokus Clan-Kriminalität, betrachtet das Phänomen aus polizeilicher Sicht. Auch für ihn reicht der reine Kontrolldruck nicht aus. „Mit reiner Einsatzlagetätigkeit bekommt man so ein Problem nicht in den Griff.“ Nötig seien spezialisierte Ermittler, die eng mit Zoll und Steuerfahndung zusammenarbeiten, und Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die auch die Strukturen hinter den Einzelfällen kennen.
Ganz verweist auf seine Erfahrung: Auch eigentlich unbescholtene Familienmitglieder würden in kriminelle Geschäfte eingespannt, etwa beim Kauf von Immobilien. „Die Blutsbande schweißen zusammen, und genau das macht es so schwer, diese Netzwerke zu durchdringen.“
In Nordrhein-Westfalen wird dieser behördenübergreifende Ansatz bereits umgesetzt. Neben einer sogenannten Null-Toleranz-Strategie mit „360-Grad-Kontrollen“, bei denen Polizei, Ordnungsämter, Ausländer- und Gewerbebehörden gemeinsam vorgehen, gibt es seit 2019 die Projektgruppe Delta beim Landeskriminalamt. Sie ist inzwischen fester Bestandteil der Behörde und dauerhaft für die Auswertung und Analyse von Clan-Kriminalität zuständig.
Hinzu kommt die Sicherheitskooperation Ruhr (Siko Ruhr), die Landespolizei, Kommunen, Zoll, Bundespolizei und Finanzverwaltung vernetzt. Die stark von Clan-Kriminalität betroffene Stadt Essen gilt dabei als Modellkommune: Dort sitzen Polizei, Ordnungsamt, Jugendamt und Finanzbehörden regelmäßig an einem Tisch, um Verdachtsmomente schnell gemeinsam auszuwerten.
Thomas Ganz zieht beim Thema Clan-Kriminalität den Vergleich zu Italien. Dort habe die Mafia trotz jahrzehntelanger und härtester Bekämpfung durch Polizei, Justiz und Militär ihre Strukturen behaupten können. „Die Erfahrung zeigt, dass man solche familiär verankerten Systeme kaum völlig zerschlagen kann.“ Für ihn sei deshalb klar: „Der Kampf gegen die Clans ist schon verloren. Die Frage ist nur noch, ob wir das Problem eindämmen können, damit es nicht noch größer wird.“
Auch im Landtag von NRW herrscht Einigkeit darüber, dass Clan-Kriminalität ein zentrales Sicherheitsproblem bleibt – aber über den richtigen Weg bei der Bekämpfung gehen die Meinungen auseinander.
Die SPD kritisiert die bisherigen Ergebnisse als unzureichend. Die innenpolitische Sprecherin Christina Kampmann sagt: „Die Strategie der Nadelstiche ist nicht falsch, reicht aber nicht aus. Es braucht Strukturermittlungen gegen die Oberhäupter und mehr Personal bei Kripo und Justiz.“ Nur so könne man die Führungsebenen erreichen, die das kriminelle Geflecht zusammenhalten.
Reuls grüne Koalitionspartner fordern einen präziseren Blick auf die Strukturen. Fraktionsvize Julia Höller betont: „Die vorhandenen Lagebilder haben einen begrenzten Blick. Wir brauchen eine präzisere Analyse.“ Neben Repression müsse die Bekämpfung von Geldwäsche und Korruption im Vordergrund stehen. Zugleich will sie mehr Chancen für Jugendliche aus belasteten Milieus schaffen: „Prävention ist der richtige Ansatz.“
Die FDP wirft der schwarz-grünen Koalition hingegen Stillstand vor. NRW-Fraktionschef Henning Höne sagt: „Es fehlen Strukturermittlungen und Ermittlungen in die Tiefe. Die Summe der Vermögensabschöpfung ist absurd gering.“ Seine Forderung: deutlich mehr Personal bei Polizei und Staatsanwaltschaften, konsequente Finanzermittlungen und ein härteres Vorgehen gegen sogenannte Friedensrichter, die staatliches Recht unterlaufen.
Die AfD erklärt die gesamte Bilanz für gescheitert. Der innenpolitische Sprecher Markus Wagner sagt: „Clan-Kriminalität boomt nicht trotz CDU-Politik, sondern wegen CDU-Politik.“ Die AfD fordere konsequente Abschiebungen von nicht-deutschen Clan-Mitgliedern, ein Ende von Duldungen, einen Einbürgerungsstopp für Straftäter und eine Null-Toleranz-Politik im Jugendstrafrecht.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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