S ohei Kamiya steht bei einer Wahlkampfkundgebung mit orangefarbenem Mikrofon in der Hand vor dem Banner seiner Partei Sanseito. „Wenn wir uns nicht gegen den Druck von außen wehren, wird Japan eine Kolonie!“, ruft er in die Menge. „Japan muss japanische Kapazitäten nutzen!“ Szenen wie diese prägten den japanischen Wahlkampf vor den Oberhauswahlen im Juli 2025 – und sind Ausdruck einer tektonischen Verschiebung.

Mit seiner Partei hat Kamiya das politische Establishment erschüttert und dazu beigetragen, dass Premier Shigeru Ishiba am vergangenen Sonntag seinen Rücktritt ankündigte. Damit macht er den Weg frei für seinen Nachfolger, der Anfang Oktober in einer parteiinternen Wahl bestimmt werden soll. Dann war Ishiba gerade mal insgesamt ein Jahr im Amt.

Es war das Ende einer Epoche. Die Koalition aus LDP und Juniorpartner Komeito hatte im Juli bei der Wahl zum Oberhaus die Mehrheit verloren, nachdem sie bereits im Oktober zuvor im mächtigeren Unterhaus ihre Mehrheit eingebüßt hatte. Seitdem regierte Ishibas Bündnis nur noch als Minderheitsregierung.

Vor zwölf Jahren hatten die LDP, ihr Koalitionspartner Komeito und die größte Oppositionspartei, die Demokraten, noch rund 80 Prozent der Sitze im Parlament inne. Heute sind es nur noch zwei Drittel. In der Teilwahl zum Oberhaus erhielt die LDP gerade einmal 24 Prozent der Stimmen, während der linke Flügel der gespaltenen Demokraten, die Konstitutionell-Demokratische Partei, nur noch viertstärkste Kraft wurde.

In seiner Abschiedsbotschaft vergangene Woche skizzierte Ishiba die großen Probleme Japans: wachsende Spannungen mit China, Nordkorea und Russland, die amerikanischen Strafzölle und Forderungen Washingtons nach höheren Verteidigungsausgaben sowie Rüstungskäufen aus den USA, steigende Preise, umstrittene Reformen in der Reis-Politik, eine alternde und schrumpfende Bevölkerung und der zunehmende Fokus auf Einwanderung.

In dieses Vakuum stößt Sanseito – eine Bewegung, die sich ideologisch an Trump-Amerika und rhetorisch an Europas Rechtsaußen-Parteien orientiert. Ihr „Japan First“-Narrativ funktioniert nach bekanntem Muster: ein klarer Gegner (Befürworter der Globalisierung, Eliten, Ausländer), einfache Lösungen (Steuern runter, Grenzen dicht, Tradition rauf) und maximale Sichtbarkeit in den sozialen Medien.

Bewegung mit mehr als 70.000 Mitgliedern

Kamiya, 47 Jahre alt, ehemaliger Reservist der Selbstverteidigungsstreitkräfte, war lange Außenseiter. Nach einem erfolglosen Anlauf bei der LDP gründete er 2020 seine Partei Sanseito. Was mit YouTube-Videos über Impfungen und Verschwörungstheorien begann, ist heute eine Bewegung mit mehr als 70.000 Mitgliedern.

Bei den Oberhauswahlen 2025 stieg sie von einem einzigen Mandat auf rund 15 Sitze und erreichte etwa zwölf Prozent der Stimmen. Das war ein Durchbruch, der Sanseito zwar keine Regierungsfähigkeit, aber spürbaren Einfluss im Parlament verschaffte. Kurz darauf traf sich Kamiya mit AfD-Co-Chef Tino Chrupalla – ein Signal, dass er sich in das internationale Netzwerk der Rechtspopulisten einfügen will.

Die Gründe für den Erfolg Kamiyas sind steigende Preise, wachsende Unsicherheit, Touristenströme durch den schwachen Yen und eine umstrittene Migrationspolitik. Die Partei profitiert vom Vertrauensverlust der LDP, die ihre konservative Basis verloren hat.

Trump geht mit Zöllen hart gegen Japan vor

Ein „Japan First“-Kurs würde geopolitisch eine Zäsur bedeuten – härteres Auftreten gegenüber China, kühlere Haltung zu Washington, weniger Unterstützung für Europa im Ukraine-Krieg. Hinzu kommt, dass Japan ohnehin unter Druck steht, US-Präsident Donald Trump hat Strafzölle auf japanische Exporte verhängt. Zwar konnte Tokio im Sommer ein Abkommen mit Washington aushandeln, um die Folgen abzufedern. Aber die Unsicherheit über die künftigen Handelsbeziehungen bleibt.

„Wir dürfen uns nicht auf ausländische Arbeitskräfte verlassen. Unsere Position ist klar: Wer kommt, soll nach einer gewissen Zeit wieder gehen.“ Mit solchen Sätzen spitzt Kamiya die demografische Debatte bewusst zu.

Auch die Prognose, dass das alternde Japan auf 80 Millionen schrumpfen wird, ficht ihn nicht an: „Es wird trotzdem genug Japaner geben, um das Land am Laufen zu halten.“ Hinzu kommt die Warnung vor einem „kolonisierenden China“, die er mit Grundstückskäufen von Investoren begründet.

Realistisch betrachtet bleibt Sanseito trotz aller Erfolge eine kleine Partei mit begrenztem Handlungsspielraum. Im Unterhaus verfügt sie über nur drei Sitze, kann weder Gesetzesinitiativen allein einbringen noch Mehrheiten bilden.

Ihre Chancen hängen davon ab, wie tief die LDP in Führungskrisen, Skandalen und Flügelkämpfen versinkt. Die Geschichte zeigt, dass radikale Parteien in Japan bislang selten dauerhaft Fuß gefasst haben – weshalb Beobachter skeptisch bleiben, ob Sanseito wirklich zu einer festen Größe wird.

Ishibas Rücktritt ist nicht die Ursache, sondern Symptom eines politischen Bruchs. Sanseito füllt das Vakuum mit Trump-Stil und AfD-Strategie, getragen von digitaler Reichweite und nationalistischen Parolen. Eine Regierungsübernahme ist weit entfernt. Doch die Partei hat Japans Politik bereits verschoben – und gezeigt, dass rechtspopulistischer Protest in Tokio kein Randphänomen mehr ist.

Christina zur Nedden berichtet im Auftrag von WELT seit 2022 aus Asien.

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