Nicht nur das Parlament ist aus der Sommerpause zurück, auch die Politik-Talks sind zurück – und widmen sich dem in der schwarz-roten Koalition schwelenden Streit über die Zukunft des Sozialstaats. Unter der Fragestellung „Wer rettet den Sozialstaat?“ empfing Maybrit Illner im ZDF zu ihrer ersten Sendung nach der Sommerpause. Über Milliardenlöcher und nötige Reformen beim Sozialstaat diskutierten der Unions-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn, Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek, „Spiegel“-Journalist Markus Feldenkirchen, die Wirtschaftsweise Veronika Grimm und der Ökonom Jens Südekum, der den Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) berät.

Zumindest über die Notwendigkeit von Reformen herrschte in der Runde Einigkeit. Feldenkirchen erinnerte daran, dass es seit der Agenda 2010 von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) keine echte Reform mehr gegeben habe. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) habe zwar nun zwar einen „Herbst der Reformen“ angekündigt, es müsse aber erst noch gezeigt werden, dass es nicht bei großen Worten bleibe.

Wirtschaftsweise Veronika Grimm stimmte zu, dass Reformen dringend kommen müssten. „Noch sind wir nicht am Abgrund“, so Grimm, „allerdings steigen die Sozialausgaben seit Jahren stärker als das Wirtschaftswachstum“. Mögliche Lösungen, um den Sozialstaat „langfristig finanzierbar“ zu halten, seien gar nicht so dramatisch – auch wenn sie wehtun könnten: „Das Renteneintrittsalter leicht ansteigen lassen, den Anstieg der Bestandsrenten leicht dämpfen und den Nachhaltigkeitsfaktor wieder einführen“, lautet der Vorschlag der Ökonomin. Also mehr und länger arbeiten.

Ökonom Südekum, der Berater des Vizekanzlers, setzt wiederum auf wirtschaftliches Wachstum: Für 2026 sei ein Plus von 1,2 bis 2 Prozent prognostiziert, doch dafür brauche es jetzt auch eine „dramatische Entbürokratisierung“ und Investitionen in Infrastruktur.

CDU-Politiker Spahn wurde deutlicher: „Deutschland ist ärmer geworden. Außerdem werden wir weniger und älter.“ Ohne Wachstum könne der Sozialstaat nicht funktionieren. Zugleich machte er klar, dass neben Reformen in Sektoren wie Pflege, Rente und Gesundheit, auch Änderungen beim Bürgergeld zwingend seien. Um Kürzungen für Bürgergeldempfänger gehe es in erster Linie gar nicht, sondern um jene, die arbeiten könnten. Spahn nannte als fiktives Beispiel einen 25-Jährigen, der ein Jobangebot vom Jobcenter verweigere. „Wer arbeiten kann und einen Job nicht annimmt, der gehört nicht zu den Schwächsten“, sagte Spahn.

„Jetzt geht’s los“, kommentierte Reichinnek (Linke) kopfschüttelnd – und der Schlagabtausch war eröffnet. Von der Union käme immer dieselbe Leier, sagte Reichinnek. Dabei gebe es laut Statistik gerade einmal 16.000 Totalverweigerer. Bürgergeldempfänger seien noch viele andere Menschen mit anderen Hintergründen, allein 500.000 Alleinerziehende, die nicht arbeiten könnten, „weil die Betreuungssysteme nicht ausgebaut sind“.

„Absoluter Reformbedarf“ beim Bürgergeld

Auch die beiden Ökonomen, Südekum und Grimm, sowie Journalist Feldenkirchen halten das Sparpotenzial beim Bürgergeld für gering. Unionspolitiker wie Jens Spahn und Thorsten Frei hatten dagegen in den vergangenen Monaten bekundet, dass bei den aktuellen Ausgaben von 52 Milliarden Euro Einsparungen von bis zu zehn Milliarden möglich seien. Merz nannte zuletzt die Zahl von zehn Prozent, also fünf Milliarden.

Der Ökonom Jens Südekum hält selbst drei Milliarden Euro Einsparungen beim Bürgergeld für „ambitioniert“. Er rechnete vor, dass selbst ein Wechsel von 100.000 Bürgergeld-Empfängern in Vollzeitjobs gerade einmal 1,6 Milliarden Euro einsparen würde. „Nun ist es aber nicht so, dass plötzlich ein Wunder passiert und 100.000 neue Jobs entstehen für Bürgergeldempfänger“, sagte er.

Von den rund fünfeinhalb Millionen Bürgergeld-Beziehern seien etwa vier Millionen Erwachsene, rechnete Südekum weiter. Die Hälfte von ihnen arbeite bereits oder befinde sich in Ausbildung, die sogenannten Aufstocker hätten jedoch kaum etwas von ihrem Lohn, weil er direkt auf das Bürgergeld angerechnet werde.

Unter den 1,7 Millionen Empfängern, die tatsächlich arbeitslos sind, hätten zudem rund 90 Prozent keine Ausbildung oder ausreichende Sprachkenntnisse oder sie pflegten Angehörige. „Diese Menschen sind auch nicht mit Druck in den Arbeitsmarkt zu bringen, weil sie in relativ kurzer Zeit wieder im Bürgergeld sind, weil das nicht funktioniert hat“, so Südekum. Es gebe beim Bürgergeld „absoluten Reformbedarf“, aber eher in Bereichen wie einer besseren und intensiven Betreuung der Arbeitslosen und bei den Aufstockern – damit sich Arbeit wieder lohne.

„Das alles macht etwas mit der politischen Stimmung“

Spahn beharrte dagegen auf höheren Einsparungen. Für ihn sei das auch eine Frage der Gerechtigkeit. Die Hälfte der Bürgergeld-Bezieher seien Nichtdeutsche, viele seien erst in den vergangenen drei Jahren ins Land gekommen, darunter viele Ukrainer. Zudem gebe es von Banden organisierte Systeme, die Sozialmissbrauch betrieben. „Das alles macht etwas mit der politischen Stimmung“, sagte Spahn. „Ich bin sehr sicher: In einem System von 50 Milliarden Euro lassen sich drei bis fünf Milliarden einsparen“, legte er sich dann fest.

Reichinnek konterte scharf. Die von Spahn genannten Milliarden seien „ohnehin nicht zu holen“. Und selbst wenn, würden sie das Haushaltsloch von 70 Milliarden Euro kaum schmälern. „Es geht da eher um ein Strafbedürfnis, das Sie scheinbar haben“, warf sie dem CDU-Politiker vor. Statt die Schwächsten ins Visier zu nehmen, brauche es eine Vermögenssteuer und hohe Besteuerung von Erbschaften, sagte die Linke-Fraktionsvorsitzende.

Unterstützung bekam sie in diesem Punkt vom Wirtschaftswissenschaftler Südekum – zumindest was die Steuerpolitik betrifft. „In Deutschland wird Leistung und Arbeit zu hoch besteuert. Aber Vermögen, leistungsloses Erben, wird zu wenig besteuert.“

Dem stimmte Spahn zu. „Wir hatten in den letzten Jahren, gerade in der Niedrigzinsphase, die Situation, dass Vermögen eigentlich ohne größeres eigenes Zutun von allein fast gewachsen ist“, so Spahn unter Verweis auf gestiegene Immobilien- und Aktienwerte. „Wer schon hatte, hat immer mehr“, sagte Spahn – und betonte in dieser Frage ausdrücklich seine Übereinstimmung mit Linken-Politikerin Reichinnek. „Bei der Vermögensverteilung, dass die so nicht in Ordnung ist, stimme ich zu“. Die Frage sei „natürlich, wie man auch da eine größere Gerechtigkeit herstellen kann“.

Im Hinblick auf die Erbschaftssteuer wies er auf die Bedingung hin, dass Unternehmensübergänge ohne Substanzverlust möglich sein müssten. Noch in diesem Jahr werde außerdem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftssteuer erwartet. Die Koalition plane zur Mitte der Legislaturperiode eine Steuerreform – und werde die Steuer dann möglicherweise neu regeln. Beobachter erwarten, dass die Koalition nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu einer Reform der Erbschaftssteuer gezwungen sein könnte.

„Sie wollen ein anderes System“

Den Sozialismus, den Reichinnek vertrete, hält Spahn jedenfalls nicht für geeignet, um die Krise des Sozialstaats zu lösen. „Sie haben die Tage wieder den Sozialismus gelobt. Sie reden nett und freundlich – aber im Kern wollen sie ein anderes System“, warf Spahn der Linken-Politikerin vor.

Spahn warf Mitgliedern der Linkspartei zudem vor, das Attentat an dem rechtskonservativen Aktivisten Charlie Kirk bejubelt zu haben. „Es freuen sich heute Ihre Mitarbeiter, ich glaube, einer sogar aus Ihrem Bundestagsbüro, darüber, dass es dieses Attentat in den USA gegeben hat. Das ist ein Umgang mit Andersdenkenden, da habe ich jedenfalls ein Problem mit.“ Reichinnek stritt das ab.

Ein Referent für politische Kommunikation im Büro von Reichinnek hatte auf X kurz nach der Erschießung Kirks ein Meme aus der BBC-Auto-Show „Top-Gear“ mit dem Satz „Oh no! Anyway“ (sinngemäß: „Oh nein, was soll …“) gepostet. Nach empörten Reaktionen wurde der Beitrag gelöscht.

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