Seit dreieinhalb Jahren führt Russland einen großangelegten Krieg gegen die Ukraine. Dass Drohnen und andere Geschosse auf Nato-Territorium niedergehen, kam dabei immer wieder mal vor. Das Eindringen zahlreicher russischer Drohnen nach Polen aber ist etwas ganz Neues - und zieht große Fragen nach sich.

Was ist passiert?

In der Nacht auf Mittwoch drangen nach Angaben des polnischen Regierungschefs Donald Tusk mindestens 19 Flugobjekte in den Luftraum über Polen ein. Erstmals schossen die polnische Luftwaffe und verbündete Nato-Kräfte in Polen Drohnen ab. Bis Mittwochabend wurden nach Angaben des polnischen Innenministeriums die Trümmer von 16 Drohnen gefunden - weit verteilt über das Land und einige Hunderte Kilometer von der Ostgrenze entfernt. In einigen Medienberichten ist auch von mehr als 20 Drohnen die Rede.

Nato-Kampfjets, F-16 aus Polen und niederländische F-35 stiegen zur Abwehr der Flugobjekte auf. Ein italienisches Awacs-Aufklärungsflugzeug kam ebenfalls zum Einsatz. Abgeschossen wurden nach bisherigen Erkenntnissen aber nur vier oder fünf Drohnen. Die übrigen Drohnen stürzten offenbar ab, nachdem ihnen der Treibstoff ausgegangen war. Das Eindringen der Drohnen beobachteten auch Bundeswehrsoldaten, die seit Januar zwei in Polen stationierte Patriot-Flugabwehrsysteme steuern, auf ihren Bildschirmen.

Was ist über die Drohnentypen bekannt?

Unter Berufung auf die polnischen Angaben sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius am Mittwochnachmittag, es habe sich um Drohnen vom Typ "Shahed oder baugleich" gehandelt. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Varianten, der ursprünglich im Iran entwickelten und seit Jahren auch in Russland gefertigten Shahed-Drohnen. Während die sogenannte Kamikazedrohne Shahed-136 in der Regel mit einem Sprengkopf versehen in Ziele einschlägt, sind andere Modelle mit anderen Waffen bestückbar oder tragen gar keine Sprengkörper mit sich.

"Die Drohnen waren nicht bewaffnet", sagte am Folgetag Sicherheitsexperte Nico Lange im Interview mit ntv.de. Er berief sich auf die letzten Erkenntnisse der polnischen Regierung. Es handele sich um Gerbera-Drohnen, die bei russischen Angriffswellen gegen die Ukraine üblicherweise als Täuschkörper für die Luftabwehr eingesetzt werden. So erreichen mehr der tatsächlich bewaffneten Drohnen wie Geran-2, der russische Lizenznachbau der iranischen Shahed, ihr Ziel. "Wäre am Mittwoch eine Geran-2 auf das Haus in Polen gefallen, wäre davon nichts übriggeblieben."

Nach Erkenntnissen des RTL/ntv-Verifizierungsteams gibt es bislang tatsächlich keine Hinweise darauf, dass die Drohnen in irgendeiner Art und Weise bewaffnet waren. Die erkennbaren Schäden an den Absturzorten resultieren demnach aus der Wucht des Absturzes, nicht aus Explosionen. Die Staatsanwaltschaft der Woiwodschaft Lublin gab ihrerseits bekannt, dass an sechs verschiedenen Drohnenfundorten keine Sprengstoffe gefunden wurden. Für mindestens eine gefundenen Drohne bestätigten die Ermittler den Drohnentyp Gerbera.

Wollte Russland das Nato-Land Polen angreifen?

Die Antwort ist ein vorsichtiges Nein. Ähnlich wie andere Experten für internationale Sicherheitspolitik oder für Militärfragen kommt Nico Lange zu der Einschätzung, dass Russland mit dem gewählten Vorgehen vor allem die Nato-Luftabwehr aufgeklärt hat. Auch die politische Reaktion der Nato-Länder teste Moskau auf diesem Weg aus. Das Eindringen der Drohnen sei "trotzdem nicht ungefährlich" gewesen, so Lange. Schließlich stürzten die Drohnen über bewohntem Gebiet ab, ein Wohnhaus wurde schwer beschädigt. Es hätten also auch Menschen zu Schaden kommen können.

Der "Spiegel" berichtete am Donnerstag, angesichts der Flugbahn von fünf der Drohnen würden Nato-Militärexperten vermuten, dass die russischen Drohnen auf den polnischen Flughafen von Rzeszów zielten, bevor mindestens drei von ihnen abgeschossen worden seien. Der Flughafen im Südosten Polens wird demnach seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine 2022 als Logistik-Hub genutzt, um einen Großteil der westlichen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine abzuwickeln.

Wie bewertet Polen den Vorfall?

In einem Radiointerview sprach der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski von einem "beispiellosen Angriff russischer Drohnen auf einen Mitgliedstaat nicht nur der UN, sondern auch der Europäischen Union und der Nato". Unabhängig von der Frage, ob die Drohnen bewaffnet waren, hielt Sikorski fest, dass es sich bei 19 Verletzungen des polnischen Luftraums durch mehrere Drohnen in einer siebenstündigen Aktion nicht um einen Zufall handeln könne. "Dies ist ein militärischer und politischer Test nicht nur für Polen, sondern für die gesamte Nato."

In einer gemeinsamen Erklärung mit den Außenministern der Ukraine und Litauens verurteilte Sikorski den Vorfall als eine bewusste und beispiellose Provokation Russlands. Staatschef Karol Nawrocki telefoniert zudem noch am Mittwochabend mit US-Präsident Donald Trump. Der aber blieb bislang schmallippig und fragte lediglich auf seiner Kurznachrichtenplattform Truth Social, was mit Russland los sei. Die Ermordung von Charlie Kirk dürfte Trump am gestrigen Tag allerdings stärker umgetrieben haben als die Entwicklungen in Europa.

Was sagt die Bundesregierung?

Am Mittwochnachmittag teilte die Bundesregierung mit, Polen habe die Nato-Staaten am Morgen "über die Verletzung seines Luftraums durch bewaffnete russische Drohnen informiert". Ferner erklärte ein Sprecher von Bundeskanzler Friedrich Merz: "Russland hat Menschenleben in einem Staat gefährdet, der der Nato und der EU angehört." Merz erklärte am Abend, er teile die Einschätzung, dass es sich bei dem Vorfall nicht um Zufall oder Versehen handele. Nach Einschätzung des Bundeskanzlers handele es sich um eine "neue Qualität von Angriffen, die wir aus Russland sehen".

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sprach von einer "bislang beispiellosen Verletzung des polnischen und damit des Nato-Luftraums". CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffman, einer der Chefs der die Regierung tragenden Fraktionen, sagte in der ntv-Sendung Frühstart: "Das gestern war ein historischer Vorfall - das erste Mal, dass mit militärischem Gerät absichtlich in Nato-Territorium eingedrungen worden ist und dass die Nato militärisch hat reagieren müssen."

Wie reagiert die Nato?

Wie die Bundesregierung in Abstimmung mit den Nato-Partnern reagieren wird, ist offen. Auf Antrag der polnischen Regierung kommen die Mitglieder der Militärallianz zu Konsultationen nach Artikel 4 des Bündnisvertrags zusammen. Ein Termin steht offiziell noch aus. Nato-Generalsekretär Mark Rutte verurteilte das "absolut gefährliche" Verhalten Russlands und betonte, die Nato sei bereit, "jeden Zentimeter" des Nato-Gebiets zu verteidigen.

Wie hat sich der Kreml geäußert?

Die russische staatliche Nachrichtenagentur Tass schrieb unter Berufung auf das russische Verteidigungsministerium, Russland habe in der Nacht zu Mittwoch militärische und industrielle Einrichtungen in der Westukraine angegriffen. Ziele in Polen seien nicht vorgesehen gewesen. Die Reichweite der Drohnen, die angeblich die polnische Grenze überquert haben sollten, liege nicht über 700 Kilometern. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow verweigerte am Donnerstag weitere Kommentare. Belarus, ein enger Verbündeter Moskaus, gab am Mittwoch an, einige Drohnen verfolgt zu haben, die "aufgrund von Störungen" vom Kurs abgekommen seien.

Was folgt aus dem Vorfall militärisch?

Einmal mehr zeigt sich das große Dilemma, vor dem auch die Ukraine im Umgang mit den ständigen Luftangriffen aus Russland steht: Die Abwehr billiger Drohnen mit überschaubarem Schadenspotenzial geschieht mit extrem teuren Systemen, sodass jede einzelne erfolgreiche Abwehr schnell Hunderttausende Euro kostet und Munition aufbraucht, die nicht schnell zu ersetzen ist. Ferner wird die Nato wohl intensiv aufarbeiten, warum nur wenige der eingedrungenen Drohnen tatsächlich abgeschossen wurden.

Welche weiteren Folgen hat das Eindringen russischer Drohnen?

Die polnische Regierung hat eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt. Angaben darüber, wann der Sicherheitsrat in New York beraten soll, wurden von polnischer Seite nicht gemacht. Russland ist in dem Gremium eine der fünf Vetomächte und kann eine Verurteilung seines Verhaltens blockieren. In Polen bleibt der Flugverkehr entlang der Ostgrenze des Landes vorerst eingeschränkt: Tagsüber sind Flüge in der Zone verboten, es sei denn, es handelt sich um bemannte Flugzeuge mit Flugplan und Funkkontakt zu den Behörden. Nachts gilt ein vollständiges Flugverbot mit Ausnahme von Militärflügen.

Was passiert als nächstes?

Am Freitag startet das russisch-belarussische Großmanöver Sapad 2025 ("Westen 2025") in Belarus, das bis zum 16. September geplant ist. Das Manöver soll bis Dienstag abgehalten werden. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, geht bei der russisch-belarussischen Großübung von rund 13.000 übenden Soldaten in Belarus und weiteren 30.000 auf russischem Gebiet aus. Nach Angaben aus Minsk soll das Manöver allerdings gegenüber den ursprünglichen Planungen verkleinert und von der Westgrenze ins Landesinnere verlegt werden - vorgeblich, um die Spannungen mit dem Westen zu verringern.

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