Zur Vorbereitung von Entscheidungen über bedeutsame Sachkomplexe kann der Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzen, so heißt es in der Geschäftsordnung des Parlaments. Die ist nicht nur mit Abgeordneten, sondern auch mit externen Sachverständigen besetzt und soll vorhandenes Wissen erschließen, aufbereiten und daraus gesetzgeberische, institutionelle und organisatorische Empfehlungen ableiten.
So gab es in der vorigen Legislaturperiode eine Enquete mit dem Auftrag, Lehren aus dem zwei Jahrzehnte währenden deutschen Engagement in Afghanistan zu ziehen. Fast drei Jahre lang waren elf Abgeordnete und elf Sachverständige damit befasst, Empfehlungen für das „laufende und künftige internationale militärische und zivile Engagement Deutschlands“ zu entwickeln. Das Gremium erledigte seine Arbeit gewissenhaft, scheute auch vor Analysen nicht zurück, die für die Politik schmerzhaft sind. Deutschland sei in Afghanistan „strategisch gescheitert“, heißt es in dem im Januar 2025 vorgelegten Abschlussbericht.
Insbesondere das Prinzip des vernetzten Ansatzes, also die Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Instrumente, sei von den Ministerien „nicht hinreichend“ umgesetzt worden. Noch schärfer fiel die Selbstkritik aus, das treffe auch auf den Bundestag zu. Der sei mit der Begleitung des Einsatzes „insgesamt strukturell überfordert“ gewesen.
Auf Basis dieser Analyse legte die Kommission einen 72 Punkte umfassenden Katalog mit „Empfehlungen zur Optimierung des vernetzten Ansatzes“ vor – und benannte den Pferdefuß gleich mit: „Die Enquete-Kommission existiert nur für die Dauer der 20. Wahlperiode und kann nicht selbst für die Verwirklichung der Empfehlungen sorgen.“ Dazu bedürfe es des Einsatzes künftiger Regierungen und des Bundestags.
Das Interessante daran ist: Die Bundesregierung hat Einsatz gezeigt, jedenfalls einige der Anregungen aufgegriffen. So wird im Abschlussbericht vorgeschlagen, zur Verbesserung der strategischen Planung solle ein neuer „Kabinettsausschuss für integriertes Krisenmanagement eingerichtet werden“. Die schwarz-rote Koalition schuf einen Nationalen Sicherheitsrat als zentrales Gremium zur Koordinierung der wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik. Ein nationales Lagezentrum soll noch folgen – auch das eine Empfehlung der Enquete.
Aber was ist mit dem Bundestag selbst? WELT AM SONNTAG fragte die Vorsitzenden von fünf in der Sicherheitspolitik zentralen Ausschüssen, ob es ihre Kontrollfunktion gegenüber der Regierung nicht erfordere, ebenfalls strukturelle Veränderungen ins Werk zu setzen. Die Enquete-Kommission hatte ein ganzes Bündel an Ideen dazu vorgelegt, die von einem ressortübergreifenden Einsatzausschuss über intensivierte Berichtspflichten der Regierung bis hin zu einer jährlichen Plenardebatte über die sicherheitspolitische Lage reichen.
Das Interesse daran scheint allerdings nicht sonderlich groß.
Wenn der Innenausschuss-Chef ans Kanzleramt verweist
Armin Laschet (CDU), Chef des Auswärtigen Ausschusses, ließ die Anfrage von WELT AM SONNTAG ebenso unbeantwortet wie Mechthild Heil (CDU), Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Wolfgang Stefinger (CSU), der den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung leitet, findet: „Der Nationale Sicherheitsrat sollte jetzt zunächst seine Arbeit aufnehmen. Der Bundestag verfügt über wirksame Strukturen, um seiner Kontrollfunktion gerecht zu werden.“
Auch Thomas Röwekamp (CDU), Chef des Verteidigungsausschusses, lässt mitteilen, man müsse erst sehen, wie der Sicherheitsrat sich in der Praxis entwickele.
Josef Oster (CDU), amtierender Leiter des Innenausschusses, stellt fest, dass „der interne Meinungsbildungsprozess in dieser Sache noch nicht abgeschlossen ist“ – und verweist für weitere Informationen „an das Bundeskanzleramt“. Ein Volksvertreter, der die Regierung kontrollieren soll, will zu möglichen Reformen dieser Kontrolle mithin die Regierung antworten lassen – ein bemerkenswertes Verständnis von Gewaltenteilung.
Die Antworten fügen sich in das bisherige Handeln des Bundestags bei der Kontrolle der neuen Sicherheitspolitik der Koalition. So beschloss der Haushaltsausschuss mit den Stimmen von Union und SPD Ende Juni, einen großen Teil der Berichtspflichten der Ministerien an das Parlament aufzuheben. In Zeiten der unbegrenzt möglichen Schuldenaufnahme im Sicherheitsbereich gibt das Parlament also Kontrollinstrumente zur Verwendung der Milliardensummen aus der Hand – und schwächt sich selbst.
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, der als Sachverständiger in der Enquete-Kommission mitgewirkt hatte, findet dagegen, dass ein selbstbewusstes Parlament für seine Kontrollfunktion in der komplexen Sicherheitsvorsorge „eine gestärkte ressortübergreifende Bewertungskompetenz benötigt, die deutlich über die heutigen Möglichkeiten hinausgeht“. Die Regierung sei mit der Implementierung des Sicherheitsrates einen Schritt in die richtige Richtung gegangen, so der Oberst: „Ich hoffe, dass jetzt auch im Parlament nachgezogen wird. Nur so kann es gelingen, dass Regierung und Parlament gemeinsam professioneller werden.“
Ähnlich sieht es Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität München und ebenfalls Enquete-Sachverständiger. Der von der Kommission für das internationale Krisenmanagement empfohlene „Einsatzausschuss“ sei für die nun dominierende Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung erst recht nötig: „Denn so wäre der Bundestag in der Lage, die Aktivitäten der einzelnen Ministerien mit Blick auf ihre Wechselwirkung zu diskutieren. Aus meiner Perspektive haben viele der Vorschläge der Enquete nicht nur Gültigkeit behalten, sondern an Aktualität gewonnen.“
Der ehemalige Grünen-Abgeordnete Winfried Nachtwei, auch Sachverständiger der Enquete, hat seine Kontrollaufgaben seit den Balkan-Einsätzen der Bundeswehr über eineinhalb Jahrzehnte so intensiv ausgeübt wie kaum ein zweiter Volksvertreter. Er sieht „einen erheblichen Handlungsbedarf aufseiten des Bundestags, seine sicherheitspolitischen Mitwirkungs- und Kontrollfunktionen zu verbessern“ – zumal es jetzt nicht mehr nur um Einsätze in entfernten Konfliktländern gehe, „sondern um die eigene, existenziell bedrohte Sicherheit“. Der Nachholbedarf bei der Gesamtverteidigung, insbesondere dem „Torso“ des Zivilschutzes, sei „viel größer, als er es je bei vernetzten Kriseneinsätzen war“.
Statt der bisher vorherrschenden Schönrednerei der Regierung benötigten die Parlamentarier „ein ehrliches Lagebild“, sonst finde „Kontrolle im Nebel“ statt. Es brauche mehr Mitwirkung auf allen Ebenen: „Das ist mit dem traditionellen Nebeneinander der Fachausschüsse, dem Mitberatungsverfahren und gelegentlichen gemeinsamen Anhörungen nicht zu schaffen“, so Nachtwei. Ein Ausschuss für Gesamtverteidigung solle „zumindest zügig geprüft werden“.
Ob dieser Weckruf von den aktuellen Parlamentariern gehört wird, ist freilich zweifelhaft. Der fehlende „Wissenstransfer über Wahlperioden hinaus“ wird im Abschlussbericht der Enquete als ungelöstes Problem geschildert.
Der politische Korrespondent Thorsten Jungholt schreibt seit vielen Jahren über Bundeswehr und Sicherheitspolitik. Seinen Newsletter „Best of Thorsten Jungholt“ können Sie hier abonnieren.
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