Für die Ukraine ist es wichtig, Ziele auf russischem Boden anzugreifen - doch US-Raketen darf sie dafür nicht verwenden. Im Interview erklärt Oberst Reisner die Hintergründe und sagt, was die neuen ukrainischen Drohnen Flamingo und Neptun können.
ntv.de: Herr Reisner, die Amerikaner verbieten der Ukraine den Einsatz von ATACMS-Raketen auf russische Ziele im Hinterland. Um was für Ziele geht es da?
Markus Reisner: Die Ukraine versucht seit Beginn des Krieges die russischen Streitkräfte tief hinter der Front zu treffen. Auf operativer Ebene sind dies Angriffe auf Gefechtsstände, Logistikknotenpunkte und Truppenbereitstellungen. Auf strategischer Ebene hingegen Angriffe auf Produktionsstätten der Rüstungsindustrie sowie auf Erdölförderanlagen. Dabei gibt es durchaus Erfolge. So ist in den letzten Monaten die russische Raffinerieproduktion zwischen 13 bis 15 Prozent eingebrochen.
Wie sehr schmerzt das die Russen?
Für die Russen haben Treibstofflieferungen an die Front sowie der Öl- und Gasexport Priorität. Auch daher kommt es mittlerweile zu Rationierungen für die russischen Bevölkerung. Videos von langen Schlangen an Tankstellen zeigen dies. Die Situation ist nicht kritisch, aber das Ergebnis der ukrainischen Angriffe ist messbar.
Gilt das auch für militärische Ziele?
Frische Satellitenbilder zeigen zudem die Folgen von zwei Drohnenangriffen auf ein wichtiges Logistikzentrum in Tatarstan. Der Standort, der für den Alabuga-Komplex von zentraler Bedeutung ist, dient zur Lagerung von russischen Geran-2-Drohnen. Mindestens sechs Treffer wurden in einem Lagerhaus registriert. Die Ukraine erhofft sich dadurch, ein Nachlassen der russischen Drohnenangriffe zu erreichen.
Die Trump-Regierung erlaubt es der Ukraine nicht mehr, solche Ziele mit US-Waffen anzugreifen. Dabei hat ja schon solche Angriffe gegeben - im November des vergangenen Jahres zum Beispiel.
Nach langer Diskussion ließ die Biden-Administration im November 2024 drei gezielte präzise Angriffe mit weitreichenden Waffensystemen im Raum Kursk und somit auf russischem Territorium zu. Die Russen wiederum setzten im November 2024 erstmals eine russische Mittelstreckenrakete vom Typ "Oreschnik" ein und führten mehrere hybride Angriffe auf Europa durch.
Eine Rakete, die auch Nuklearsprengköpfe tragen kann. In Europa war man alarmiert.
Was folgte, waren Anfang Dezember 2024 Telefonate des amerikanischen mit dem russischen Generalstabschef zum Zwecke der Deeskalation. Einen derartigen Austausch gab es davor zum letzten Mal im Spätsommer 2022. Damals überlegten die Russen, taktische Atomwaffen einzusetzen. Als Folge des neuerlichen Telefonats im Dezember 2024 wurden die Angriffe auf russischem Territorium wieder ausgesetzt. Dies geschah noch während der Biden-Administration. Das Aussetzen der Angriffe jetzt ausschließlich Trump in die Schuhe zu schieben, ist daher nur ein Teil der Wahrheit. Die Biden-Administration wollte es den Ukrainern ermöglichen, das im Raum Kursk eroberte Gebiet zu halten. Noch wichtiger war es aber, eine Eskalation mit Russland zu vermeiden. Das ist bitter, aber Teil einer sorgfältig überlegten US-Strategie.
Wäre es aus Ihrer Sicht eine Eskalation, wenn die Ukraine diese weitreichenden Waffen westlicher Verbündeter auf russischem Gebiet einsetzt?
Die Ukraine versucht gerade jetzt, unmittelbar vor möglichen Verhandlungsrunden, zu zeigen, dass sie die Initiative ergreifen kann. Sie kämpft ums Überleben. Für sie gilt Machiavelli - "der Zweck heiligt die Mittel".
Die Ukraine will außerdem selbst Langstrecken-Waffen herstellen. Was ist darüber bekannt?
Neue ukrainische Langstreckenmarschflugkörper vom Typ FP-5 Flamingo oder auch der kürzlich präsentierte Marschflugkörper "Long Neptune" verfügen über eine hohe Reichweite. Beim Flamingo sollen es bis zu 3000 Kilometer sein, bei einer Sprengstoffzuladung von 1150 Kilogramm. Der "Neptun" soll bis zu 1000 Kilometer weit fliegen können. Gezeigt wurden Bilder von FP-5 Flugkörpern mit den Seriennummer 479 und 480. Offenbar werden sie also in hoher Stückzahl produziert. Hinzu kommt die Serienproduktion der FP-1 Angriffsdrohne. Sie soll analog zur russischen Geran-2 Angriffsdrohne in hoher Stückzahl gefertigt werden. Ziel ist mit ihrem Einsatz eine Überlastung der russischen Fliegerabwehr zu erzielen, um dem FP-5 Flamingo oder dem Long Neptune den Weg zu ihren Zielen zu ebnen. Die Botschaft an Russland ist eindeutig: "Wir werden in Kürze noch härter und massierter in der Tiefe des russischen Territoriums zuschlagen!"
Wie können die Amerikaner überhaupt kontrollieren, dass die Ukrainer diese Systeme nicht eskalierend einsetzen?
Sie können dies nur bei Waffensystemen durchführen, die von den USA geliefert wurden, oder bei jenen europäischen Systemen, welche US-Unterstützung beim Einsatz benötigen. Bei ukrainischen Langstreckenwaffen ist eine direkte Einflussnahme nicht möglich, indirekt allerdings schon. Wie man weiß, waren einige ukrainische Offensivhandlungen nicht mit den USA koordiniert. Dazu zählen der Angriff auf das russische Frühwarnradar im Jahr 2024, das für die nukleare Abschreckung strategisch wichtig ist. Der ukrainische Vorstoß in Richtung Kursk 2024 oder die Operation Spiderweb 2025 waren ebenfalls nicht abgesprochen. Im April 2022 versuchten die USA die Ukraine daran zu hindern, den russischen Generalstabschef Gerasimow bei einem Frontbesuch zu töten. Die USA fürchteten eine unkontrollierbare Eskalation und wollten das verhindern. Es gelang ihnen aber nicht. Die Ukrainer griffen an und Gerasimow überlebte nur knapp. Der kürzliche ukrainische Angriff auf die wichtige Drushba-Erölpipline führte sogar zu einem Protest der ungarischen Regierung. Was wiederum US-Präsident Trump dazu bewog, sein Missfallen darüber zum Ausdruck zu bringen.
Was kann Trump tun?
Der indirekte Ansatz der USA kann es sein, der Ukraine wichtige Unterstützung zu verwehren, etwa die Lieferung von Geheimdienstinformationen als Teil der Zielfindung oder eben das Aussetzen von Lieferungen wichtiger Waffensysteme oder Munitionssorten.
Einzelne Systeme sind keine Gamechanger, das haben wir in diesem Krieg gelernt. Aber wie wichtig sind die ATACMS oder auch vergleichbare Systeme wie der britische Storm Shadow oder der baugleiche Taurus aus Deutschland?
Derartige Systeme helfen der Ukraine, wichtige Ziele in Russland empfindlich zu treffen. Im vorherrschenden Abnützungskrieg ist die Massenproduktion weitreichender ukrainischer Drohnen und Marschflugkörper ein wichtiges Zeichen. Die Ukraine ist somit in der Lage, der mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen geführten strategischen Luftkriegsführung Russlands etwas quantitativ entgegenzusetzen. Man kämpft auf Augenhöhe. Während die FP-1-Angriffsdrohnen der Saturierung der russischen Fliegerabwehr dienen, durchstoßen die FP-5 Flamingo oder Long Neptune den Fliegerabwehrschirm und treffen präzise ihre Ziele. Die Ukraine kann ihre Intensität der Angriffe gegen russische Raffinerien, Erdölförder- und Transportanlagen sowie gegen Logistikknotenpunkte und Gefechtsstände signifikant erhöhen. Das bringt Russland wiederum unter Druck.
Trump hat die Lieferung von Extended-Range-Attack-Munitions (ERAM) in Aussicht gestellt. Was kann die leisten, gerade im Vergleich zu den ATACMS?
US-Präsident Trump stellte bereits vor einiger Zeit die Lieferung von über 3350 Stück ERAM an die Ukraine in Aussicht. Die sollte im vierten Quartal 2025 erfolgen. Dabei handelt es sich um mit hoher Sorgfalt entwickelte Hochleistungswaffensysteme mit einer im Vergleich zu ATACMS etwas erhöhten Standardreichweite von bis zu 400 Kilometern. Der Umstand, dass es sich hier um fertig entwickelte und erprobte Waffensystem handelt, ist wichtig. Um tatsächlich erfolgreich zu sein, benötigen moderne Marschflugkörper eine Reihe von Fähigkeiten. Sie müssen verlässlich funktionieren und resistent gegenüber elektronischen Störmaßnahmen sein, über wirksame redundante Navigationssysteme verfügen und benötigen ein leistungsstarkes Triebwerk. Im Fall der ukrainischen FP-5 Flamingo kommt das Jettriebwerk einer L-39-Trainer zum Einsatz, einem verbreiteten tschechischen Schulflugzeug. Hinzu kommt der Bedarf an mitgeführten Täuschkörpern gegen anfliegende russische Fliegerabwehrraketen.
Was bedeutet ein ERAM-Einsatz für den Krieg?
Man hört, dass Trump den Einsatz der ERAM auf ukrainisches Territorium beschränken will. Auch die Krim soll nur punktuell und in enger Abstimmung mit den USA angegriffen werden dürfen. Auch an dem aktuellen Vorgehen ist der Versuch der USA erkennbar, trotz aller Unterstützung eine Eskalation mit Russland zu vermeiden. Sie setzen darauf, dass den Russen auf der Zeitachse die Kraft ausgeht. Darum versucht die Ukraine, der gerade die Zeit davonläuft, mit Vehemenz ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Zur Lage an der Front: Wie sieht es im Donbass an den umkämpften Städten wie Pokrowsk aus?
Der Druck der Russen ist unverändert hoch. Die russischen Angriffsverbände greifen unvermindert die Gebiete im Osten der Ukraine an. Hier, im Mittelabschnitt der Front, liegen Städte wie Kupjansk, Sewersk, Kostjantyniwka, Pokrowsk und Nowopawliwka. Sie sind entweder von einer Einkesselung bedroht oder befinden sich bereits in einem nahezu geschlossenen Kessel. Besonders im Donbass, im Raum zwischen Nowopawliwka über Pokrowsk bis Kostjantynivka, verschärft sich die Lage täglich. Nördlich und südlich von Pokrowsk ist es den Ukrainern neuerlich gelungen, die Lage mit mehreren Gegenangriffen zu stabilisieren. Das ist eine gute Nachricht für die Ukrainer. Bei Kupjansk rücken die Russen hingegen weiter vor. Nordostwärts von Sewersk ist es ihnen gelungen, ein großes Stück des seit Jahren umkämpften Serebranska-Waldes einzunehmen.
Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen
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