Kommentarspalten sind das Irrenhaus der Nation. Ein Resonanzzentrum für Extreme. Das Internet macht Politik zum Krawallzirkus: lautstarkes Grölen von extremen Rändern, während die Mitte verstummt. Likes schlagen Logik, Hetze verdrängt Fakten - und plötzlich wirkt Deutschland unregierbar.

Die Logik der Aufmerksamkeits-Ökonomie im politischen und gesellschaftlichen Diskursbetrieb ist einfach zu entschlüsseln. Mit dem Triumphzug des Internets hielten zunächst Social Media Plattformen Einzug in unseren Alltag. In ihrem digitalen Windschatten folgten die Kommentarspalten. Die Abwasserkanäle für Meinungsexkremente. Eine fantastische Möglichkeit für jeden, in der Arena der Diskussionsclowns eine Manege für seine ganz persönlichen Überzeugungen zu bauen. Jedenfalls jedem, dem es gelingt, sich eine funktionierende Zufahrtstraße zur Datenautobahn zu legen. Unabhängig davon, wie skurril, rassistisch, antisemitisch, sexistisch, faktenbefreit, wissenschaftsleugnend, hetzerisch oder beleidigend sie ausfällt.

Wer heute versehentlich durch Antworten unter Postings prominenter Politikerinnen und Politikern scrollt, bekommt einen Eindruck, welche intellektuellen, kognitiven und orthographischen Abgründe sich in den Kommentarspalten-Irrenhäusern bisweilen auftun. Womit wir beim heutigen Thema wären: Dem Mitte-Dilemma. Mitte definiert als politische Zugehörigkeitsvariante, nicht als Berliner Ortsteil. Es geht ja um ideologisch geprägte Denk- und Diskussionsweisen im lyrischen Ich der Befindlichkeitsprosa. Und nicht um dramatisch angestiegene Mietspiegel. Die berühmte Mitte ist im Kommentarspalten-Krieg heute kaum noch vorhanden. Oder, konkreter: kaum noch vernehmbar. Denn es gibt sie. Zumeist ist sie sogar deutlich größer als die Schlagzeilen produzierenden Ränder. Man hört sie nur nicht so laut, weil sie ihre Tagesfreizeit selten dafür opfert, anonymen Fremden im Internet zu erklären, dass sie falsch liegen.

Das Fitnessstudio für Meinungsgeisterfahrer

Das Mitte-Dilemma ist also eigentlich ein Dilemma der Diskrepanz. Der zwischen Menge und Wahrnehmungsrelevanz von in den Orbit zerebraler Unzurechnungsfähigkeit wegfloatenden Social Media Schreihälsen. Also ihrem tatsächlichen Wirkungsgrad in Zeiten der Internet-Demokratie. Oder wie meine Oma sagt: Arschgeigen-Dilemma. Die Meinung, die am lautesten vorgetragen wird, ist nicht immer die, die am populärsten vertreten ist. Aber inzwischen ertrinkt die Mitte in Kommentarfluten, die von den extremen Rändern über sie hereinstürzen. In unserer schönen, neuen Glitzerwelt voller selbstbewusst auftretender YouTube-Akademie-Absolventen und Tiktok-Sachverständigen zählen Likes, Reichweite und Sichtbarkeit inzwischen mehr als Inhalt, Expertise und Fakten.

Wo man sich früher höchstens an Stammtischen verrauchter Eckkneipen mal im Vollsuff schwor, sich gegenseitig die Beißleisten neu durchzukacheln, stößt man heute sofort auf krawallfixierte Meinungssimulanten, sobald man eine Social App öffnet. Das Internet hat vieles leichter gemacht, vieles schöner, vieles schneller. Zu den Türen, die es öffnete, gehören allerdings auch ein paar, hinter denen sich Diskursräume verbergen, wo Besonnenheit maximal als Serviervorschlag gilt. Wer die groteskeste Behauptung aufstellt, fährt am meisten Reaktionen ein. Engagement sagt man dazu neudeutsch. Im Englischen versteht man unter Engagement Verlobung. Das Eheversprechen. Im trafficgetriebenen Netzkosmos der botunterstützten Meinungs-Vorkauer wird nicht oft geheiratet. Dafür lässt man sich fortlaufend scheiden. Leider häufig vom gesunden Menschenverstand.

Die laute Heimat der Ahnungslosigkeit

Zweifel am Konzept Internet für alle sind aber nicht angebracht. Demokratie. Meinungsfreiheit. All diese wunderbaren Errungenschaften, denen wir täglich unsere Freiheiten verdanken - sie bleiben stabil. Teilnehmen darf im Internet daher weiterhin jeder. Und das ist okay. Man darf ja auch jederzeit ohne jegliche nachgewiesene Qualifikation Kinder bekommen. Oder Außenminister werden. Man sollte nur ein paar wichtige Details im Hinterkopf behalten, wenn man sich in den Pool der populistischen Keyboard-Propagandakämpfer wagt. Sonst wird auch ein demokratisch sehr gefestigtes Land wie Deutschland früher oder später politisch unregierbar.

Politisch unregierbar? Junge, Junge, jetzt mach mal halblang, junges Fräulein, mag man da denken. Okay, vielleicht ohne "junges", aber 34 ist doch kein Alter und außerdem ist das hier immer noch meine Kolumne. Aber zurück zur Hypothese "unregierbar": Man kann politisch unterschiedliche Positionen vertreten. Robert Habeck würde als Kanzler auch eine andere Politik machen als Friedrich Merz. Dennoch haben beide beachtlichen Zuspruch beim sogenannten Souverän. Jedenfalls von denen, die bei "Shopping Queen" ihr Budget nicht in Aluhüte investiert haben und jetzt andauernd Sätze wie "die BRD GmbH ist kein Staat" ins Internet schreiben müssen.

Geht die Entwicklung aber weiter dahin, dass Meinungen größeren Zuspruch erhalten als Fakten, wird es für Demokraten zukünftig schwer, Mehrheiten zu erhalten. Auf dem Reply-Schlachtfeld der verzerrten Social Media Realität verhärten sich die Standpunkte. Für die einen ist man bereits rechtsextrem, wenn man die Meinung von Heidi Reichinnek nicht teilt. Für die anderen gilt man als linksgrünversiffter Spinner, sobald man anmerkt, der Klimawandel wäre vielleicht doch keine Erfindung der Wärmepumpenindustrie. So gesehen ist die Hufeisentheorie eigentlich eine klassische Robin Hood Legende: Man nimmt es der Reichinnek und gibt es den geistig Armen.

Trockenpaddeln im Kanu des kleinen Meinungsmannes

Die Quintessenz dieser Beobachtung könnte nun sein: Jeder, der politische Verantwortung übernehmen möchte, also die Habecks und Merz der Zukunft, werden den Claqueuren der Ideologieränder nicht gefallen. Sie sind nicht extrem genug. Wenn also Politiker sich ebenso radikalisieren müssen, wie Meinungen im Netz, um noch ausreichend Gehör zu finden, verlieren am Ende alle. Heute schon spürt man gelegentlich die verzweifelte Hilflosigkeit der Politikerriege, mit diesen Tendenzen umzugehen. Friedrich Merz etwa beendet die Staatsräson, um Kreateuren einer Atmosphäre der als Kritik getarnten Israelfeindlichkeit ein paar Brocken Beschwichtigungssymbolik hinzuwerfen. Und je weniger demokratisch man aufgestellt ist, um so ostentativer wird das Vokabular. Ein Björn Höcke sagt zwar nicht "Freunde, so schlimm war Hitler gar nicht". Aber er sagt: "Das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt." Rechts vom kultivierten demokratischen Boden ist man offenbar schon angekommen, wo kein vernunftbegabter Mensch hingeraten möchte.

Plakative Beispiele dafür, wie man es in der Tretmühle zwischen linken und rechten Extremmeinungsmachern niemandem mehr recht machen kann, aber am Ende die schweigende Mehrheit die Strippen in der Hand hält, gibt es auch diese Woche. Diese Mehrheit hört man an den Brandherden des Social Media Eskalationstourismus nicht. Dennoch spricht sie mit uns. Deutlich. Exemplarisch möchte ich hier den neuen Film "Das Kanu des Manitu" erwähnen. Er wird mit Sicherheit den Hufeisenaward 2025 gewinnen. Links ist man sicher, der Film wäre homophob, rassistisch und voller müder Gags in kulturell angeeignetem Kontext. Rechts beteuert man, diese billige Kopie des 24 Jahre alten Blockbusters "Der Schuh des Manitu" ist ein brutal durchgewokter Offenbarungseid überzogener politischer Korrektheit und man dürfe ihn nur anschauen, wenn man aus dem Stehgreif fehlerfrei aufsagen kann, wofür die Abkürzung "LGBTQIA2S+" steht.

Demokratie wird wehrhaft sein, wenn es darauf ankommt

Wären diese beiden mittelkonstruktiven Rezessionslinien mehrheitssatisfaktionsfähig, müsste Bully Herbigs neues Werk ein epischer Flop in den Lichtspielhäusern werden. Doch der Volksmund spricht eine andere Sprache als berufsempörte Social Media Kreissägen. 800.000 Menschen sahen den Film in den ersten vier Tagen. Der beste Kinostart seit 2019. Ein Erfolg, den man höchstens noch mit Fortsetzungen übertreffen könnte, die Namen wie "Der CO2-Fußabdruck des Manitu" oder "Der Schuh des/der Manitu*in" tragen.

Man sieht also: Die Gefahr ist real, dass Nischenmeinungen von willigen Transporteuren der Gehässigkeit aus den Social Media Umfeldern bis in die Tagesschau durchsickern. Dennoch bin ich sicher, es handelt sich bei meiner Annahme, Deutschland würde eventuell unregierbar, um eine Fehlprognose. Eine, die bei Buchmachern etwa solche Quoten erzielt, wie es sie aktuell dafür gibt, wenn Schalke 04 Deutscher Meister wird. Sie wird nicht eintreffen. Unsere Demokratie wird wehrhaft sein, wenn es darauf ankommt.

Warum habe ich sie dann also aufgestellt, diese Theorie? Gute Frage! Die Antwort ist einfach: Ich bediene natürlich ebenfalls die Mechanismen aus der Beachtungs-Trickkiste. Eine markant drastische Behauptung aufstellen und sich im hyperventilierenden Kommentarspalten-Drama der Tastatur-Akademiker weiden. Ja, Entschuldigung. Was soll ich sagen? Ich bin auch nur ein Mädchen, das vor einem Publikum steht und es bittet, seine Kolumne zu lesen.

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