Zehn europäische Länder sind wohl offen für eine Truppenentsendung in die Ukraine. Die Diskussion könnte jedoch eine Scheindebatte werden, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange. Zuerst müsse Russlands Präsident Wladimir Putin zu einem Waffenstillstand bewegt werden - dafür gebe es Möglichkeiten.
ntv.de: Zehn Staaten sollen laut Bloomberg bereit sein, Bodentruppen zur Friedenssicherung in die Ukraine zu schicken, allen voran Frankreich und Großbritannien. Wird Deutschland mitziehen?
Nico Lange: Bodentruppen ist ein Begriff, den man vor allen Dingen nutzt, um Leute zu erschrecken. Bei Sicherheitsgarantien geht es zuvorderst darum, die Streitkräfte der Ukraine zu unterstützen, denn die machen das meiste. Eine europäische Militärpräsenz sollte ein Teil der Sicherheitsgarantien sein. Die politische Logik dahinter aus meiner Sicht: Wenn es nach einem Waffenstillstand zu solchen Sicherheitsgarantien kommt, zu denen eine europäische Militärpräsenz in der Ukraine gehört, kann Deutschland nicht im Abseits stehen.
Ist diese Diskussion über die Entsendung von Truppen verfrüht, solange es keinen Waffenstillstand in der Ukraine gibt?
Diese Formulierung "Entsendung von Truppen" impliziert, man müsse jetzt hingehen und die Ukraine beschützen. Das ist Unsinn. Wir reden von etwas, das relevant würde, wenn es einen Waffenstillstand gibt, den es nicht gibt - und den Russlands Präsident Wladimir Putin auch nicht will. Man muss aufpassen, dass man jetzt keine Trockenübungen veranstaltet. Und man muss aufpassen, keine Scheindebatte anzustoßen, die am Ende nicht dazu führt, dass ein Waffenstillstand kommt in der Ukraine.
Trump teilte Selenskyj und den europäischen Staats- und Regierungschefs am Montag persönlich mit, dass die Ukraine unter einen ähnlichen Schutz wie Artikel 5 der Nato fallen werde, ließ jedoch Einzelheiten offen. Der Nato beitreten soll die Ukraine aber nicht. Wie könnten Trumps Sicherheitsgarantien denn aussehen?
Kein Mensch weiß, was Sicherheitsgarantien ähnlich zu Artikel 5 heißen soll. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Trump oder sein Sondergesandter Steve Witkoff wissen, was das heißt. Da wird viel hineininterpretiert in Äußerungen, als wäre da ein großes Konzept dahinter. Das gibt es aber gar nicht. US-Außenminister Marco Rubio ist erst damit beauftragt worden, etwas zu entwickeln. Bei Sicherheitsgarantien muss man die Frage beantworten, wie man Russland nach einem Waffenstillstand von einem erneuten Angriff auf die Ukraine abhalten will. Da gehören verschiedene Elemente dazu.
Welche?
Es gibt mindestens fünf. Erstens die Streitkräfte der Ukraine, die leistungsfähig bleiben müssen. Wenn Russland weiter aufrüstet, muss auch die militärische Leistungsfähigkeit der Ukraine steigen. Die Ukrainer machen bei der Verteidigung ihres Landes das meiste, sie stehen vorne. Es geht nicht darum, dass sich irgendein europäischer Soldat vor die Streitkräfte der Ukraine stellen soll. Um die Ukraine anderweitig zu unterstützen, braucht es dennoch eine europäische und amerikanische Militärpräsenz.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Streitkräfte der Ukraine haben zum Beispiel bisher wenig Kampfflugzeuge. Aber zur Luftraumüberwachung und zur Luftverteidigung bräuchte man eine größere Luftwaffe. Das könnte durch Partner geleistet werden - das ist das zweite Element der Abschreckung. Der dritte Punkt ist die maritime Überwachung und der Küstenschutz. Da gilt die Vereinbarung von Montreux, wonach nur die Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres dies leisten dürfen - also etwa die Türkei, Bulgarien, Rumänien. Viertens braucht man eine glaubhafte konventionelle Abschreckung, zum Beispiel mit Marschflugkörpern wie Tomahawk. Über diese Marschflugkörper verfügen nur die USA. Das fünfte Element ist die politische Koordinierung der Abschreckung.
Wie meinen Sie das?
Internationale Absprachen, die klären: Wenn Russland nach einem Waffenstillstand die Ukraine überfallen sollte, wer redet dann mit wem? Was geschieht genau? Was hat man eingeübt, was hat man geplant? Der Beistand nach Artikel 5 in der Nato ist klar geregelt, da gibt es Institutionen und Verfahren. Aber Trump spricht von einer anderen Art von Sicherheitsgarantien. Da stellt sich die Frage, wie man das dann macht.
Was wäre möglich?
Es werden verschiedene Beispiele herangezogen, etwa die Situation in Nord- und Südkorea 1953, wo der Konflikt nach zähen Verhandlungen eingefroren wurde. Diese historischen Beispiele passen aber nicht für die Ukraine. Jetzt ist entscheidend, über die Architektur von Sicherheitsgarantien zu diskutieren. Aber wenn man das auf diese flache Art und Weise macht, indem man über die Entsendung von Bodentruppen diskutiert, beschäftigt man sich ohne Erfolg mit sich selbst. Am wichtigsten ist die Antwort auf die Frage: Wie kriegt man Putin zu einem Waffenstillstand.
Wie kriegt man ihn dazu?
Die Möglichkeiten sind lange bekannt. Aber es mangelt am Willen, das Nötige zu tun. Die Ukraine müsste mit militärischen Fähigkeiten ausgestattet werden, die so weit reichen, dass sie Russland militärisch unter Druck setzen kann. Dass das geht, haben ukrainische Soldaten etwa bei Kiew, bei Cherson und bei Charkiw immer wieder gezeigt. Aber wenn die Europäer tröpfchenweise Dinge liefern, wenn Deutschland den Marschflugkörper Taurus nicht liefert, wenn man vieles andere ausschließt und nur wartet, dass sich das Ganze von allein festfährt, dann wird das nicht funktionieren. Der andere Weg, um Druck auf Putin aufzubauen, ist die finanzielle Perspektive.
Die da wäre?
Es gibt immer noch eingefrorenes russisches Vermögen in Europa, das man nutzen könnte. Zudem bleiben die Europäer unglaubwürdig, wenn sie weiterhin Öl, Gas, Uran und Brennstoffe aus Russland kaufen - und damit Putins Kriegskasse füllen. Es wirkt abstrus, wenn die Europäer dann Trump auffordern, er soll mit Sanktionen oder Sekundärzöllen mehr Druck auf Moskau machen.
Wenn es irgendwann Sicherheitsgarantien mit Beteiligung der Europäer geben sollte - wo sollen dann wie viele europäische Soldaten eingesetzt werden?
Niemand will gegen Russland in den Krieg ziehen in dieser Debatte um Sicherheitsgarantien. Die Diskussion um Bodentruppen führt in die Irre - wir beschäftigen uns mit unseren Gefühlen, aber nicht mit der Frage: Wie lösen wir das Problem der europäischen Sicherheit? Es geht bei einer möglichen Militärpräsenz in der Ukraine innerhalb von Sicherheitsgarantien nicht darum, an einer Kontaktlinie zu patrouillieren oder, wie im Kalten Krieg, Auge in Auge mit den Russen an irgendeiner Front zu stehen. Die Ukrainer können ihre Frontlinie ehrlicherweise besser verteidigen als wir. Das sieht man jeden Tag.
Mit Nico Lange sprach Lea Verstl
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke