Ein umstrittener Ausdruck macht die Runde: Migration als Waffe. Gemeint ist in der Regel, was an der polnisch-belarussischen Grenze passiert: strategisch erzeugte Migration. Aber nicht nur Belarus und Russland setzen Migranten ein, um andere Staaten unter Druck zu setzen oder sonstige Ziele zu erreichen. "Dieses Instrument wird mindestens seit den Zeiten des zweiten assyrischen Großreichs genutzt", sagt die US-Politologin Kelly M. Greenhill, die den Begriff geprägt hat.

Nach den Zielen, die ein Täterstaat erreichen will, unterscheidet Greenhill vier unterschiedliche Formen der gesteuerten Migration. Die wichtigste ist der Versuch, ein anderes Land zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, ihn letztlich zu erpressen. Wie können Staaten darauf reagieren? "Es gibt keine einfache Lösung für dieses Problem - auch das ist etwas, dem zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird", sagt Greenhill im Interview mit ntv.de. Zugleich warnt sie vor einem "Wettlauf nach unten" in der Migrationspolitik. "Die Verletzung humanitärer und rechtlicher Verpflichtungen kann die einwanderungsfeindliche Stimmung im eigenen Land noch verstärken", so die Expertin.

ntv.de: Was ist der Unterschied zwischen normaler Migration und "Migration als Waffe"? Die Flüchtlingskrise zum Beispiel, die vor zehn Jahren durch den Krieg in Syrien ausgelöst wurde - war das ein Fall von strategisch erzeugter Migration?

Kelly Greenhill: Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Assad-Regierung in den ersten Tagen des Aufstands 2011 versuchte, ihre Nachbarn davon abzuhalten, den Rebellen zu helfen, indem sie drohte, Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten zu zwingen. Noch eindeutiger belegt ist, dass die türkische Regierung Ende 2015 und Anfang 2016 damit drohte, die EU mit syrischen Flüchtlingen zu überschwemmen. Sie setzte so den umstrittenen EU-Türkei-Deal durch. Und drittens setzten alle Parteien im syrischen Bürgerkrieg Migration ein, um militärische Vorteile zu erreichen. Einige Parteien setzten Migration auch ein, um Enteignungen durchzusetzen. Unterm Strich kann man sagen, dass Migration in diesem Krieg sehr stark als Waffe eingesetzt wurde.

Sie unterscheiden je nach den Zielen, wie Migration als Waffe eingesetzt wird?

Ja. Insgesamt gibt es vier Varianten der strategisch erzeugten Migration.

Beginnen wir mit der Migration, deren Ziel die Enteignung von Bevölkerungsgruppen ist.

Das Hauptziel der ersten Variante ist die Aneignung des Territoriums oder des Eigentums einer oder mehrerer Gruppen, im Extremfall die Auslöschung dieser Gruppe oder Gruppen, weil sie vom Täter als Bedrohung angesehen wird. Zu dieser Kategorie gehört auch, was man ethnische Säuberungen nennt. Was in der Region Darfur im Sudan geschieht, ist ein aktuelles Beispiel.

Militärisch ausgerichtete Migrationen sind die zweite Variante: Vertreibungen, die in der Regel während eines aktiven Konflikts durchgeführt werden, um einen militärischen Vorteil auf dem Schlachtfeld zu erlangen. Dazu kann gehören, dass Vertriebene zum Militärdienst gezwungen werden, dass sie vergewaltigt oder ausgeraubt werden. Das ist seit Ewigkeiten ein Mittel, um Aufstände zu bekämpfen.

Und die beiden anderen?

Weiterhin gibt es die auf Ausweisungen ausgerichtete Migration. Ein Regime kann mit dieser dritten Variante beispielsweise versuchen, seine innere Position zu stärken, indem es politisch Andersdenkende ausweist. Oder es schickt Migranten in ein anderes Land, um ausländische Regierungen zu ärgern, um Unruhe zu stiften oder einen Staat zu destabilisieren. Letzteres ist, soweit ich das einschätzen kann, was der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko seit 2021 versucht.

Und schließlich gibt es Migration, die Druck auf einen anderen Staat ausüben soll. Dabei handelt es sich um grenzüberschreitende Bevölkerungsbewegungen, die absichtlich erzeugt oder manipuliert werden, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen oder zu verhindern. Häufig ist das Ziel, politische, militärische oder wirtschaftliche Zugeständnisse von anderen Staaten zu erzwingen. In der Praxis kommt es allerdings häufig zu Überschneidungen bei diesen vier Arten von Migration als Waffe.

Ist die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgelöste Migration ein solcher Fall? Oder ist die Flucht von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern nur ein willkommener Nebeneffekt für den Kreml?

Das ist schwer zu sagen. Wenn Bomben fallen und Truppen einmarschieren, fliehen die Menschen, und sie tun dies aus guten Gründen: Sie wollen ihr Leben retten. Ein ehemaliger Mitarbeiter der russischen Söldner-Gruppe Wagner sprach einmal davon, dass dem Westen auf diese Art "glückliche Zufälle" beschert würden. Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen, heißt nicht zwangsläufig, dass sie in strategischer Absicht zur Flucht gedrängt wurden. Sollte Putin aber beabsichtigt haben, die Europäische Union so unter Druck zu setzen, so hat die EU ihm jede Aussicht auf Erfolg genommen, indem sie den Flüchtlingen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz gewährte. Das war ein kluger Schachzug, auch wenn die innenpolitischen Folgen mit zunehmender Dauer des Kriegs nicht ignoriert werden können.

In Ihrem Buch "Weapons of Mass Migration" schreiben Sie, dass es allein zwischen 1956 und 2006 mindestens 56 Fälle von massivem politischem Druck auf andere Staaten durch Migration gab. Fast drei Viertel davon waren nach Ihrer Definition zumindest teilweise erfolgreich. Trotzdem ist diese Art der gesteuerten Migration aus Ihrer Sicht keine "Superwaffe". Ihr Buch ist 2010 erschienen, seither ist viel passiert. Würden Sie an dieser Einschätzung festhalten?

Ja. Demnächst erscheint eine zweite Auflage des Buches. Darin führe ich Dutzende weitere Fälle aus den Jahren 1951 bis 2025 auf. Ich bleibe bei der Einschätzung, dass Migration als Mittel, um andere Staaten zu erpressen, keine Superwaffe ist. Aber sie kann Täterstaaten sehr effektiv helfen, bestimmte Ziele zu erreichen - wenn auch häufig zu einem hohen humanitären Preis.

Der Begriff "Migration als Waffe" wird häufig als problematisch empfunden, da er Flüchtlinge nicht als Menschen, sondern als Gefahr darstellt.

Nicht der Begriff ist das Problem. Das Problem ist das Phänomen, ebenso wie die unzureichenden politischen Reaktionen darauf. Und: Nicht Migranten und Flüchtlinge selbst treten als Waffen auf; sie sind Opfer, Spielfiguren, die von Staaten und nichtstaatlichen Akteuren als Waffen eingesetzt werden. So zu tun, als würde es Migration als Waffe nicht geben, wird sie nicht davor schützen, Opfer zu werden. Wenn man die Schwächsten von uns schützen will, muss man den Einsatz von Migration als Waffe bekämpfen und verhindern. Da reicht es nicht, die Instrumentalisierung von Migration zu leugnen.

Ein Migrationsexperte argumentiert, die Migranten, die von Belarus nach Polen kommen, seien "eine vollkommen unbedeutende Größenordnung". Die Panik sei auf polnischer Seite mit extremer Fremdenfeindlichkeit ausgelöst worden.

Einverstanden. Aber was [in Polen] im Spiel ist, ist nicht der Einsatz von Migration als Waffe, sondern eine Art politischer Instrumentalisierung von Migration als Waffe, um innenpolitische Vorteile zu erreichen. So machen Zielstaaten sich nur noch verwundbarer.

Moralische Panik ist immer schlecht. Aber der Einsatz von Migration als Waffe wird nicht dadurch verursacht, dass man sich eingesteht, dass sie stattfindet. Dieses Instrument wird mindestens seit den Zeiten des zweiten assyrischen Großreichs genutzt. Nicht ganz so lange her ist ein bekanntes Zitat des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu: "Juden, Deutsche und Öl sind unsere besten Exportgüter." Der Satz dient übrigens als Titel für eine Ausstellung, die demnächst in Chemnitz gezeigt wird.

Warum sind gerade liberale Demokratien so verwundbar beim Einsatz von Migration als Waffe? Liegt es daran, dass sie für Migranten in der Regel viel attraktiver sind als autoritäre Länder?

Es ist sicherlich einfacher, Menschen an Orte zu locken, die für sie attraktiv sind - und wir sollten nicht vergessen, dass Migranten und Flüchtlinge handelnde Subjekte sind, auch wenn jene, die sie zu Waffen machen, ihren Handlungsspielraum oft erheblich einschränken. Zudem sind liberale Demokratien, insbesondere reiche und mächtige, häufig besser in der Lage, die Forderungen der Täter zu erfüllen. Und schließlich sind liberale Demokratien historisch gesehen viel anfälliger für den Druck, der durch die Unterschiede von vorgeblichen Werten und tatsächlichem Handeln entsteht. Es gibt noch weitere Gründe, aber die genannten Faktoren sind ziemlich wichtig.

Wie können betroffene Länder auf all das reagieren?

Das hängt von den jeweiligen Umständen ab - vom Kontext und von der Art, wie Migration als Waffe eingesetzt wird. Selbst, wenn wir uns allein auf die auf Zwang ausgerichtete Instrumentalisierung von Migration beschränken: Unterschiedliche Situationen erfordern unterschiedliche Reaktionen, oft mehrere unterschiedliche Reaktionen gleichzeitig. Vier Optionen gibt es, keine ist ein Allheilmittel, alle haben Vor- und Nachteile.

Erstens können die Zielstaaten nachgeben - wie sie es oft tun, um Krisen zu beenden. Aber das birgt das Risiko, Täter zu einem erneuten Angriff zu ermutigen. Zweitens können die Zielstaaten auf drohende Migrationsströme reagieren, indem sie ihre humanitären Verpflichtungen aufkündigen, ihre Grenzen schließen und/oder versuchen, das Problem nach außen zu verlagern - das tun Staaten ja auch bei gewöhnlichen Migrationsbewegungen. Auf diese Weise können tatsächliche oder drohende Migrationsströme unsichtbar bleiben und die Zielländer können sich zumindest kurzfristig vor Zugeständnissen drücken. Für liberale Demokratien kann es allerdings mit hohen politischen und moralischen Kosten verbunden sein, wenn sie andere Länder bezahlen, um Migranten in Schach zu halten.

Welche Art von Kosten?

Zum Beispiel kann die Verletzung humanitärer und rechtlicher Verpflichtungen die einwanderungsfeindliche Stimmung im eigenen Land noch verstärken und die Werte untergraben, die liberale Staaten gern hochhalten. Und wenn ein Land damit anfängt, ermutigt es häufig andere, es ebenso zu machen. Das kann einen migrationspolitischen Wettlauf nach unten auslösen. Das Abwälzen von Verantwortung führt langfristig jedenfalls nicht dazu, dass Staaten weniger anfällig dafür sind, dass Migration als Waffe gegen sie eingesetzt wird. So etwas verschiebt die Probleme nur in die Zukunft und lässt sie oft noch größer werden.

Und Punkt drei?

Zielstaaten können militärische Maßnahmen ergreifen, um die Bedingungen vor Ort in dem Land, das sie unter Druck setzt, zu verändern. Doch Kriege können kostspielig sein, ihr Ausgang ist ungewiss. Manchmal erreicht ein vom Ausland erzwungener Wandel sein primäres Ziel: Der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi etwa wurde 2011 entmachtet. Aber in den letzten dreißig Jahren ist kein derartiges Unterfangen vollständig nach Plan verlaufen. In fast allen Fällen hat die militärische Einmischung mehr Kosten verursacht und mehr Flüchtlinge hervorgebracht, als zu Beginn erwartet wurde. In Libyen hat die Nato-geführte Intervention zur Destabilisierung des Landes und der gesamten Region beigetragen. Die Folge war eine noch größere Zahl von Vertriebenen an den europäischen Außengrenzen - und die EU wurde noch anfälliger für die Instrumentalisierung von Migration.

Ist die vierte Option vielversprechender?

Die funktioniert nur in bestimmten Fällen: Anpassung. Zielstaaten können die Wirkung von Migration als Waffe abschwächen, indem sie die Vertriebenen einfach aufnehmen - sei es kurz- oder längerfristig. Auf diese Weise sagen die Zielstaaten im Wesentlichen: "Mach, was du willst, ich nehme sie alle." Damit nimmt man dem Täter seinen strategischen Einfluss. Das ist allerdings viel leichter zu bewerkstelligen, wenn die betreffende Gruppe ethnisch, kulturell und religiös nicht als bedrohlich wahrgenommen wird. Das wissen nicht nur die Zielstaaten, das wissen auch die Täter.

Wie reagieren Zielstaaten in der Regel?

Es liegt in der Natur von Politik, dass Staaten häufig eher auf schnelle Pflaster setzen als auf nachhaltige Lösungen. Viele Länder versuchen beispielsweise, ihre Anfälligkeit zu verringern, indem sie neu definieren, wer Anspruch auf Schutz hat. Viele Staaten erschweren es Asylbewerbern, ihre Grenzen überhaupt zu erreichen, indem sie Abkommen mit Ländern schließen, die zwischen ihnen und den Herkunftsländern der Migration liegen. Denn wer das Zielland nicht erreichen kann, kann dort auch kein Asyl beantragen. Zugleich beobachten wir eine wachsende Bereitschaft von Staaten, ihren humanitären Verpflichtungen nicht nachzukommen.

Solche Maßnahmen können kurzfristig sinnvoll sein, aber, wie gesagt: Längerfristig können sie mit hohen Kosten verbunden und kontraproduktiv sein, weil sie Staaten anfälliger für künftige Angriffe machen. Ein Staat, der einem anderen Staat die Befugnis überträgt, Migranten an seiner Stelle aufzunehmen, macht sich abhängig. Solch ein Partner kann weitere Zugeständnisse verlangen, indem er damit droht, die Menschen durchzulassen, die er vorher aufgehalten hat. Auch wenn es den Anschein hat, dass solche Maßnahmen die Verwundbarkeit des Zielstaats verringern, verlagern sie diese oft nur.

Ist das eine Situation, in der liberale Demokratien nur verlieren können?

Es gibt kein Allheilmittel gegen Migration als Waffe, aber es muss nicht darauf hinauslaufen, dass liberale Demokratien zwangsläufig verlieren. Allerdings ist es in der Praxis leider häufig so, dass viele der derzeit angewandten Maßnahmen mittel- bis längerfristig keinen Erfolg versprechen, auch wenn sie kurzfristig erfolgreich zu sein scheinen. Es gibt keine einfache Lösung für dieses Problem - auch das ist etwas, dem zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Mit Kelly M. Greenhill sprach Hubertus Volmer

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