Vor wenigen Jahren waren Israel-Flaggen auf Christopher Street Days selbstverständlich. Schließlich gilt Tel Aviv als schwule Hauptstadt des Nahen Ostens – liberal, weltoffen, lebensfroh. Das ist zwar in manchen ländlichen Regionen oder ultraorthodoxen Milieus anders. Doch in anderen Ländern der Region ist Homosexualität viel stärker gesellschaftlich tabuisiert und wird im Gegensatz zu Israel sogar rechtlich verfolgt und schwer bestraft. Trotzdem sorgen Davidsterne auf Regenbogenfahnen auf immer mehr Pride-Veranstaltungen für wütende Tumulte. Wer sich offen zum jüdischen Staat bekennt, riskiert Beschimpfungen, Ausschluss und offene Feindseligkeit.

Auf dem Berliner CSD habe ich vor zwei Wochen wieder eine Gruppe mit vielen Israel-Fahnen gesehen. An einem Block mit dem Transparent „Homos Juden Frauen“ beteiligte sich erfreulicherweise auch der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Auf dem „Mainstream-CSD“ gehört das weiterhin zur Normalität. Gleichzeitig gibt es für Israelfeinde in der Hauptstadt aber längst einen alternativen CSD, der parallel stattfindet.

Dieses Jahr nannte er sich „Internationalist Queer Pride“ – und wurde zum Schauplatz für Judenhass, wie die Beobachter des Jüdischen Forums für Demokratie und Antisemitismus dokumentierten. Der „Palästina-Block“ war zuvor neben einer entsprechenden Flagge mit einem Gleitschirm beworben worden. Unter anderem mit solchen Gleitschirmen waren Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 nach Israel eingedrungen, um dort zu morden, vergewaltigen und entführen.

Bei solchen Versammlungen, bei denen die Veranstalter dem antiimperialistischen Spektrum der radikalen Linken angehören und mit kruden Verrenkungen versuchen, den Kampf gegen Homosexuellenfeindlichkeit mit Palästina-Aktivismus zu verbinden, weiß man, worauf man sich einlässt. Für noch deutlich problematischer halte ich eine Entwicklung, die seit einigen Jahren zu beobachten ist und die auch in dieser Pride-Saison wieder sichtbar wurde: Bereits mehrfach wurden jüdische und israelsolidarische Aktivisten von Events ausgeschlossen, die sich eigentlich nicht an antiimperialistische Ideologen, sondern an den Mainstream der Szene richten.

In Berlin war nun erneut der Dyke March betroffen, eine jährliche Großdemonstration für lesbische Sichtbarkeit und damit eine wichtige Veranstaltung für viele lesbische und bisexuelle Frauen. Bereits im vergangenen Jahr waren jüdische und israelsolidarische Aktivistinnen bei einer Soli-Party im Vorfeld der Demo heftig angegangen worden. Sie wollten Präsenz zeigen, weil in einem Posting der Veranstalterinnen plötzlich die Rede davon war, dass sich das Pride-Event auch gegen „Siedlerkolonialismus, Genozid und Apartheid“ richte.

Die Aktivistinnen brachten eine Regenbogenflagge mit Davidstern und zwei Schilder mit zur Feier: „Das ist ein sicherer Tisch für Jüdinnen und Israelinnen“ und „Vergewaltigung ist kein Widerstand“. „Wir wollten zeigen, dass es mitnichten Konsens in der queeren Community ist, die Hamas zu verharmlosen“, erzählte mir damals eine Bekannte, die Teil der Gruppe war. „Nach einer halben Stunde hatten wir einen großen schreienden Mob um uns.“

Zahlreiche Personen mit Palästinensertüchern schimpften demnach über angeblich nationalistische Symbole – dabei ist die Regenbogenflagge mit Davidstern ein Symbol des queeren Judentums – und beleidigten die Kleingruppe aus fünf Aktivistinnen als „Zionistenschweine“, „Faschisten“ und „Genozidunterstützer“. Die Menge stimmte „Free, free Palestine“ an, immer wieder. Darunter waren auch Aktivisten der israelfeindlichen und marxistisch-leninistischen Gruppierungen „Palästina spricht“ und „Klasse gegen Klasse“, die das Eintreten für die Sichtbarkeit lesbischer und bisexueller Frauen für ihre Sache vereinnahmten.

Die Situation heizte sich derart auf, dass die Party beendet werden musste. Mitarbeiter der Bar machten daraufhin die jüdische Gruppe dafür verantwortlich – diese habe schließlich provoziert, sich unsolidarisch verhalten und damit den Abend ruiniert. „Es ist jene typische antisemitische Logik, nach der Jüdinnen und Juden selbst schuld sind an dem, was ihnen widerfährt“, postete die Gruppe „Dykes against antisemitism“ im Anschluss. Meine Bekannte zeigte sich erschüttert: Im Rahmen einer Demonstration, in der es um Solidarität und das gemeinsame Eintreten gegen Diskriminierung gehen sollte, wurde sie ausgegrenzt.

In diesem Jahr übernahm ein neues Team die Organisation des Berliner Dyke Marches. Vor der Veranstaltung erklärten die Organisatorinnen, die Pride-Flagge mit dem Davidstern stehe zwar für viele jüdische Queer-Personen für Empowerment und Selbstbestimmung. Gleichzeitig werde das Symbol aber auch benutzt, um „Gewalt und Krieg gegen Palästinenser zu rechtfertigen, glorifizieren und leugnen“.

Das Symbol repräsentiere für arabische Queer-Personen „eine tiefe Verletzung, Retraumatisierung und Bedrohung“, hieß es in einem Instagram-Posting. Dies widerspreche „grundlegend unserem Selbstverständnis als inklusiver, antirassistischer und kämpferischer Marsch“. Die Teilnehmerinnen sollten sich daher überlegen, ob ihre Symbole bei anderen „Angst oder Schmerz“ auslösten. Kurz gesagt: Teilnehmerinnen mit Davidstern-Regenbogenflagge waren unerwünscht.

Dazu passt auch eine Social-Media-Kachel des London Trans Pride, auf der Ende Juli zu lesen war, dieser stelle sich nicht nur gegen „Klassismus“, „Bodyshaming“, „Hurenfeindlichkeit“ und „religiöse Diskriminierung“, sondern auch gegen „Zionismus“. Die große Mehrheit der Juden war also auch dort nicht willkommen.

Eine ebenso beschämende Entscheidung hatten in der vergangenen Woche die Organisatoren des Montrealer Pride-Festivals getroffen. Weil Vertreter von Ga'ava, Kanadas ältester und größter jüdischer LGBT-Gruppe, Demonstranten, die die Parade im vergangenen Jahr gestört hatten, als „pro Hamas“ bezeichneten, wurde die Gruppe von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Organisatoren erklärten in einem Statement, in dem sie von einem „anhaltenden Völkermord in Gaza“ sprechen, Gruppierungen, die „hasserfüllte Diskurse verbreiten“, werde die Teilnahme verweigert. Erst am Dienstag wurde die Entscheidung nach scharfer Kritik rückgängig gemacht.

Ausgeschlossen bleiben soll allerdings eine Gruppe iranischer LGBT-Personen, da diese Israel nicht als völkermörderisch denunzieren wollte. Im Iran werden Schwule hingerichtet. Das Terrorregime ließ sie mehrmals an Baukränen aufhängen. Menschen, die vor diesen tatsächlichen Mördern in den Westen geflohen sind, wird also von Kanadiern, die an keinem einzigen Tag unter solchen Henkern leben mussten, erklärt, sie seien bei einer Pride-Veranstaltung nicht willkommen, solange sie nicht die eigenen israelfeindlichen Überzeugungen übernehmen. Zur Erinnerung: Im Vergleich zu den Nachbarstaaten ist Israel in Bezug auf LGBT-Rechte eine Oase der Freiheit und Demokratie.

Was solche Relativierungen in der Realität bedeuten, zeigt das Schicksal von Emily Damari. Die Israelin wurde während des Hamas-Massakers am 7. Oktober aus dem Kibbuz Kfar Aza gekidnappt und war mehr als 15 Monate lang in der Gewalt der Terroristen. Ihre Partnerin konnte nicht öffentlich für ihre Freilassung kämpfen, damit die Islamisten nicht erfahren, dass Damari lesbisch ist. Unter der Herrschaft der Hamas ist gleichgeschlechtliches Leben im Gaza-Streifen in der Öffentlichkeit undenkbar. Immer wieder gibt es Berichte über Morde im Namen der Ehre, durchgeführt von Familienmitgliedern. Emily Damari fragte während der Geiselhaft einen ihrer Entführer, was er machen würde, wenn sein Bruder schwul wäre. Ohne zu überlegen, antwortete er: „Ich würde ihn töten.“ So erzählte sie es nach ihrer Freilassung einem israelischen Fernsehsender.

Wer einen Christopher Street Day, eine Demonstration für Freiheitsrechte und die Errungenschaften der Schwulen- und Lesbenbewegung, zu einer Hassveranstaltung gegen Israel umdeuten will, kämpft nicht für die Rechte von Homosexuellen, sondern verrät sie.

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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