In einer fast die ganze Nacht dauernden Sitzung hat Israels Sicherheitskabinett beschlossen, die Kontrolle über Gaza-Stadt einzunehmen – mit dem Ziel, die Kontrolle über den gesamten Gaza-Streifen zu übernehmen. In einer Erklärung des Büros von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hieß es, fünf Grundsätze zur Beendigung des Krieges im Gaza-Streifen seien verabschiedet worden. Diese seien die Entwaffnung der Hamas, die Rückkehr aller Geiseln – lebend oder tot, die Entmilitarisierung des Gaza-Streifens, israelische Sicherheitskontrolle im Gaza-Streifen und die Einrichtung einer Zivilverwaltung, die weder der Hamas noch der Palästinensischen Autonomiebehörde untersteht. Der Plan sehe vor, dass die israelische Armee die Kontrolle über die Stadt Gaza übernehme. Gleichzeitig solle dem Plan zufolge humanitäre Hilfe an die Zivilbevölkerung außerhalb der Kampfgebiete geliefert werden.
Die Entscheidung fiel offenkundig nicht einstimmig. So heißt es in der Erklärung, das Sicherheitskabinett habe mit einer „entscheidenden Mehrheit“ der Stimmen entschieden. Ein „alternativer Plan“, der dem Kabinett zur Prüfung vorgelegt worden war, würde nach Ansicht der Kabinettsmehrheit „weder die Hamas besiegen noch die Geiseln befreien“. Weitere Details wurden nicht genannt.
Bekannt ist jedoch, dass die israelische Armee auf Anforderung der Regierung nach Operationsplänen meist mehrere Varianten vorlegt. Generalstabschef Eyal Zamir, Außenminister Gideon Saar und führende Vertreter der ultraorthodoxen Koalitionsparteien gelten als Kritiker der Richtungsentscheidung. Um in Kraft zu treten, muss der Beschluss noch vom gesamten Kabinett bestätigt werden, das nicht vor Sonntag tagen kann. Eine Bestätigung gilt als wahrscheinlich.
Zuvor hatte Netanjahu am Donnerstag im US-Sender Fox News auf die Frage nach einer Übernahme der Kontrolle in ganz Gaza erklärt: „Wir haben die Absicht dazu“. Später solle das Küstengebiet jedoch an „arabische Kräfte“ übergeben werden, die das Gebiet dann „ordnungsgemäß regieren“. „Wir wollen es nicht behalten“, sagte Netanjahu. „Wir wollen eine Sicherheitsgrenze haben. Wir wollen es nicht regieren. Wir wollen dort nicht regieren.“
Verhandlungen über eine Übergabe der Verantwortung an ein gemeinsames Kontingent westlich orientierter arabischer Staaten gibt es seit den ersten Wochen nach dem Überfall der Hamas im Oktober 2023, wie Diplomaten mehrerer beteiligter Staaten gegenüber Welt bestätigten. Als mögliche Truppensteller wurden immer wieder Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und andere genannt. Die Gespräche über eine arabische Truppe waren bisher daran gescheitert, dass Israel sich weigerte, die Sicherheitsverantwortung vollständig an die Araber zu übergeben und außerdem eine politische Rolle der Palästinenserbehörde in Gaza ablehnte.
Angst vor hohem Blutzoll der israelischen Armee
Der geplante Ausschluss der Palästinensischen Behörde würde Jahrzehnte gemeinsamer arabische Diplomatie über den Haufen werfen, die stets eine Anerkennung Israels an die Errichtung eines Palästinenserstaats unter Führung der Behörde geknüpft hatte; Israels Vorbehalt weiterer Sicherheitsoperationen trotz Präsenz einer arabischen Schutztruppe könnte bedeuten, dass die beteiligten Regierungen wie Garanten eines israelischen Vorgehens erscheinen, das viele Bürger arabischer Staaten als Völkermord ansehen, wie arabische Diplomaten gegenüber WELT zu bedenken geben. Unter diesen Umständen waren die in Frage kommenden Staaten bisher nicht bereit, sich in Gaza zu engagieren.
Berichten israelischer Medien zufolge hatte sich der Generalstabschef der Armee, Eyal Zamir, während der Sitzung gegen die Besetzung des gesamten Gaza-Streifens ausgesprochen. Diese würden die noch lebenden israelischen Geiseln gefährden und einen fortdauernd hohen Blutzoll von Israels Armee fordern. Zamir, der von Netanjahu ernannt worden war, hatte seine Opposition zur Ausweitung der Offensive schon in einer nach Medienangaben erhitzten Kabinettssitzung zu Beginn der Woche deutlich gemacht. Den Berichten zufolge soll Zamir argumentiert haben, die Armee könne durch eine solche Entscheidung in einen langwierigen Guerilla-Krieg geraten und „in der Falle sitzen“. Zudem würden die noch lebenden Geiseln im Gaza-Streifen durch eine Ausweitung des Krieges zusätzlich gefährdet, so habe Zamir argumentiert. Auch Außenminister Gideon Saar gilt als Gegner einer vollständigen Besetzung Gazas.
Den Berichten zufolge versuchte Arieh Deri, Chef der orientalisch-orthodoxen Koalitionspartei Schas, am Rand der Sitzung in der Nacht zu Freitag eine Abschwächung von Netanjahus Plänen zu erreichen. Auch andere orthodoxe Parteien in Netanjahus Koalition haben den fortgesetzten Krieg in Gaza kritisiert. Dagegen gelten die der Siedlerbewegung nahestehenden Koalitionsparteien Religiöser Zionismus und Jüdische Stärke unter Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir als Befürworter einer Ausweitung. Beide Minister fordern, den Gaza-Streifen dauerhaft zu besetzen, jüdisch zu besiedeln und die palästinensische Bevölkerung zur freiwilligen Ausreise zu bewegen.
Generalstabschef Zamir hatte am Vortag erklärt, die Armeeführung werde auch zukünftig „furchtlos ihre Sichtweise äußern“. Die Streitkräfte hätten ihre Operationen in Gaza beinahe abgeschlossen und seien auch ohne eine vollständige Besetzung in der Lage, eine „Sicherheitsgrenze“ rund um den Gaza-Streifen zu gewährleisten. Am Mittwoch hatten mehrere Medien berichtet, Zamir habe sich in einer hitzigen Diskussion im Kabinett am Vorabend vehement gegen eine vollständige Besetzung des Küstenstreifens ausgesprochen.
Verteidigungsminister Israel Katz kommentierte die Auseinandersetzung zwischen Premier und Armee-Chef nicht direkt, schrieb aber im Kurznachrichtendienst X, Zamir habe das Recht seine Meinung zu äußern, die Armee werde aber dennoch auch weiterhin die Befehle der Regierung befolgen.
Die Vereinten Nationen hatten eindringlich vor einer Besetzung von ganz Gaza gewarnt. Schon am Dienstag hatte der stellvertretende UN-Generalsekretär Miroslav Jenca entsprechende Pläne als „zutiefst alarmierend“ bezeichnet. „Das Völkerrecht ist in dieser Hinsicht eindeutig: Der Gaza-Streifen ist und muss ein integraler Bestandteil des künftigen palästinensischen Staates bleiben“, hatte Jenca gesagt. Die Einnahme des ganzen Gaza-Streifens durch Israel könne katastrophale Folgen haben und auch das Leben der verbliebenen israelischen Geiseln dort weiter gefährden.
Während der Sitzung des Sicherheitskabinetts hatten Angehörige der Geiseln und zahlreiche Bürger vor dem Sitz des Premierministers demonstriert. Viele Familien der im Gaza-Streifen Gefangenen befürchten, dass eine Ausweitung des Krieges auf den gesamten Küstenstreifen das Leben ihrer Verwandten gefährden könnte. „Wir sind auch mit Donald Trumps Unterhändler Steve Witkoff im Kontakt“, sagt Ruby Chen, Vater der Geisel Itay Chen WELT. „Wittkoff sagt, das Ziel der USA sei ein Deal für ein dauerhaftes Ende des Krieges und die Freilassung aller Geiseln. Was die israelische Regierung gerade plant, scheint nicht zu diesem Plan zu passen.“
Der Mehrheit der Bevölkerung sei die Gefahr für die Geiseln durch eine neue Großoffensive bewusst. „Wir sind sehr vorsichtig mit unseren Äußerungen zum Kriegsgeschehen.“ Doch der neue große Waffengang könne die noch lebenden Geiseln gefährden. „Und er kann auch die Chance verringern, noch jemals die sterblichen Überreste der Getöteten zu finden und zu bestatten“, sagt Ruby Chen. „Was, wenn der einzige Hamas-Angehörige getötet wird, der noch weiß, wo der Leichnam einer Geisel versteckt ist?“
Gaza-Streifen seit 2005 unter Kontrolle von islamistischer Hamas
Israel hatte den Gaza-Streifen im Sechs-Tage-Krieg 1967 erobert. Die Landnahmen damals erfolgten ausdrücklich, um sie in späteren Friedensverträgen mit arabischen Nachbarstaaten zurückzugeben. Beim Friedensschluss mit Ägypten 1979 vereinbarte Israel die Rückgabe der weitaus größeren Sinai-Halbinsel, doch Ägypten weigerte sich, den zuvor von Kairo verwalteten Gaza-Streifen wieder unter seine Kontrolle zu nehmen. Im Jahr 2005 zog sich Israel unter dem konservativen Premier und früheren Feldherren Ariel Sharon aus Gaza zurück. Grund für den Rückzug waren die hohen Opferzahlen unter israelischen Soldaten und jüdischen Siedler im Gaza-Streifen. In der Folge übernahm die islamistische Hamas-Miliz die Kontrolle über das Gebiet und verdrängte auch die säkulare palästinensische Fatah von dort.
Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober forderten Netanjahus der Siedlerbewegung nahestehenden Koalitionspartner die erneute Besetzung Gazas und die jüdische Besiedlung des Küstenstreifens. Die palästinensischen Bewohner sollten zu einer freiwilligen Umsiedelung bewegt werden. Kritiker der Regierung Netanjahu befürchten, auch eine anfänglich als vorübergehend geplante Besetzung Gazas könne einer Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung und einer erneuten jüdischen Besiedelung Gazas Vorschub leisten.
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